Text:Joachim Lange, am 26. Juli 2019
Den berühmten Einzug der Gäste gab es diesmal in Bayreuth gleich mehrfach: Auf dem roten Teppich vorm Festspielhaus. Und dann in der aktuellen Neuproduktion der Festspiele zum berühmten „Sängerkrieg auf Wartburg“, wie der „Tannhäuser“ ja im Titel des Weiteren heißt. Im ersten Fall empfangen die immer noch wichtigsten Musikfestspiele des ganzen Landes (und zumindest für die Wagnerianer: der ganzen Welt) ihre Gäste. In der Oper ist es der Landgraf von Thüringen, der zu einem Sängerwettstreit einlädt, bei dem es um das Wesen der Liebe und auch um die Hand seiner Nichte Elisabeth geht. Das Wettsingen endet bekanntlich in einem handfesten Skandal, weil der Sänger Heinrich Tannhäuser offen gegen die geltenden Moralvorstellungen der Wartburggesellschaft verstößt.
Amt Vortag hatte Festspielchefin Katharina Wagner auf dem Grünen Hügel zunächst mit der Verkündigung eines neuen „Ring“-Teams für 2020 überrascht. Mit dem jungen österreichischen Regisseur Valentin Schwarz und dem finnischen Dirigenten Pietrari Inkinen hatte nun wirklich niemand gerechnet. Die meisten Insider hatten auf Tatjana Gürbaca gesetzt. Mit ihr konnte man sich aber nicht über die Probenzeiten einigen, sie bleibe jedoch weiter im Gespräch – so der offizielle Sprachgebrauch.
Am Premieren-Vorabend dann noch ein Festakt: Wolfgang Wagner, der Enkel des Komponisten und Vater der aktuellen Festspielchefin Katharina, wurde am 30. August 1919 geboren. So kam das Festspielorchester, dass besonders bei der gegenwärtigen Rekordhitze nicht um seinen Job im verdeckten Graben zu beneiden ist, ausnahmsweise mal zu einem Auftritt auf offener Bühne. Zwar nicht im sommerlichen Zivil wie im Graben, wo sie niemand sieht, dafür mit mehr Luft zum Atmen. Der Musikdirektor der Festspiele Christian Thielemann dirigierte das „Meistersinger“-Vorspiel. Der Tannhäuser-Sänger Stephen Gould lieferte schon mal vor aller Augen und Ohren eine Romerzählung. Und dann machte Günter Groisböck auf seinen Wotan im neuen Ring neugierig und Isolden-Legende Waltraud Meier erinnerte mit dem Liebestod an Heiner Müllers „Tristan“. Katharina, Thielemann und der ehemalige Wiener Staatsoperndirektor Ioan Holender ließen schließlich die fast sechzig Jahre Revue passieren, in denen Wolfgang Wagner bis zu seinem Tod 2010 die Seele der Festspiele war – ein außergewöhnlicher Mensch und singulärer Theaterleiter.
Wie immer am 25. Juli dann die Eröffnungspremiere der Bayreuther Festspiele. Die wurde nicht nur deshalb mit Spannung erwartet, weil Tobias Kratzer Regie führte und damit bereits seine zweite „Tannhäuser“-Inszenierung präsentierte, sondern auch, weil der rastlos in der ganzen Welt dirigierende und unter sehr vielem anderen seit 2015 auch in München als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker verpflichtete Russe Valery Gergiev am Pult stehen sollte. Zur Premiere war er (anders als, dem Vernehmen nach, bei den Proben) jedenfalls pünktlich zur Stelle. Freilich hätte er wohl besser auf das hören sollen, was Christian Thielemann beim Festakt über die Tücken der Festspielhaus-Aktustik gesagt hatte. Zwar sitzt hier ein phantastisches Wagener-Orchester im Graben. Aber das, was an Gestaltungswillen und Inspiration vom Dirigentenpult kommen müsste, wurde zur Enttäuschung des Abends, weil es eben nicht kam. Anfangs hatte man den Eindruck, dass Gergiev sich bewusst zurückhielt. Beim Sängerkrieg im zweiten Akt, dessen Suspence-Potenzial sich eigentlich zum Spitzenlevel emporschrauben sollte, kam die innere Spannung fast gänzlich abhanden. Den großen Bogen, die Idee, den Willen zu „seinem“ Tannhäuser – all das blieb der Dirigent jedenfalls weitgehend schuldig.
Ganz anders die Sänger. Hier war beisammen, was auf die Bayreuther Festspielbühne gehört: Stephen Gould ist einer der wenigen Tannhäuser, der jeden Ton beherrscht und mit (immer noch) imponierender Sicherheit abliefert. Aus der Romerzählung macht er tatsächlich (gerade im Vergleich mit der konzertanten Variante vom Vorabend) vokal und darstellerisch eine imponierende Studie jener inneren Zerrissenheit, die der Regisseur im Visier hatte. Die für die verunfallte Ekaterina Gubanova kurzfristig eingesprungene Elena Zhidkova war der Rolle der Venus in all ihrer Dauerpräsenz im Kampf um Tannhäuser voll gewachsen. Lise Davidsen hat eine stimmliche Kraft, die sogar für zwei Elisabeths reichen würde. Da sie aber natürlich nur eine singen kann, wäre Ihre Interpretation der Partie auch ein klein wenig dosierter noch eine Sensation. Gleichwohl: Hier kommt mal wieder eine Wagnerstimme im Jahrhundertfomat aus Norwegen! Aber nicht nur der Mann im Zentrum und „seine“ beiden Frauen, auch alle anderen sangen auf Festspielniveau. Markus Eiche ist ein vitaler Wolfram ohne liedhafte Überfeinerung, Daniel Behle ein wohlklingender Walther und Stephen Milling ein profunder Landgraf. Kay Stiefermann (Biterolf), Jorge Rodriquez-Norton (Heinrich der Schreiber) und Wilhelm Schwinghammer (Reinmar von Zweter) komplettieren die Sängerriege absolut angemessen. Dazu kommt ein glockenklarer junger Hirte von Katharina Konradi und der vorzügliche Chor des Hauses, der als Pilgertruppe von Festspielbesuchern auftritt, sich in Penner verwandelt und als Festgesellschaft in einer ziemlich historisch anmutenden Szene mitwirkt.
Kratzer erlaubt sich gleich zu Beginn einen augenzwinkernden Verweis auf die Vorgängerinszenierung von Sebastian Baumgarten und ihre umstrittene Biogasanlage. In einem der passgenauen Videos von Michael Braun sehen wir die Off-Theatertruppe der Diva Venus, mit dem traurigen Clown Heinrich, dem kleinen Blechtrommler Oscar (Manni Laudenbach) und der sich selbst spielenden Drag Queen Le Gateau Chocolat (die letzten beiden sind dem Personal hinzugefügt und machen ihre Sache großartig). Im einem alten Citroën-Kastenwagen gondeln sie durch den deutschen Wald an der echten Wartburg vorbei, Richtung Festspielhaus. Als sie an einer Biogasanlage vorbeikommen, wird deren Firmenschild gerade mit dem Aufdruck „Mangels Nachfrage geschlossen“ überklebt. Was einen der ersten Lacher an diesem Abend provoziert – aber zugleich auch einen ersten Deutungsansatz: Bei Kratzer geht es offenbar nicht nur um den Mann in der erotischen Falle zwischen zwei Frauenbildern, sondern zwischen zwei Welten. Ausbruch in Trash und freie Kunst hier – Ordnung und „Hochkultur“ dort. Kein Schwanken zwischen Hure oder Heiliger, dafür aber zwischen künstlerischem Rebellentum und Konformität.
Die Venuswelt ist also die eines Theaters auf eigene Rechnung. On the road, bunt, unangepasst. Aber auch skrupellos. Getankt wird ohne zu bezahlen. Der Uniformierte, der sie stoppen will, wird einfach überfahren. Rast machen sie in einem hochromantischen Wald mit Caspar-David-Friedrich-Kreuz im Gebirge und deutschem Märchengrusel an einem Häuschen mit Frau Holle und Gartenzwergen. Vor allem mit dem überfahrenen Uniformierten aber hat Tannhäuser ein Problem: Kurz vor dem Festspielhaus verlässt er die bunte Truppe, die mit ihrem Citroën (mit Schlingensief-Häschen obendrauf) dann in der ersten Pause den Teich im Park unterhalb des Festspielhauses entert und krawallig bespielt. Tannhäuser dagegen, der im Clownskostüm buchstäblich auf der Straße gelandet ist, aber seine Wagnerpartitur noch im Gepäck hat, hat Glück. Er trifft auf die, die oben im Haus genau die Oper einstudieren, in der sie eh alle gerade mit von der Partie sind. Die Elisabeth-Darstellerin scheuert dem abtrünnigen Sänger zwar erstmal eine; aber er darf im getreulich historisch inszenierten Contest mitmachen.
Während des Einzugs der Gäste schleichen sich allerdings auch Venus & Co über den Balkon ins Haus. (Die Leiter, die sie benutzen, steht in der zweiten Pause dann tatsächlich draußen am Balkon, und auch das Transparent mit Richards revoluzzerndem Motto „Frei im Wollen, Frei im Thun, Frei im Genießen“ hängt noch dort.) Venus schaltet eine Choristin aus und mischt sich in deren Kostüm unter die Festgesellschaft… Und bei den Polizisten, die sich unters Publikum gemischt haben, weiß man auch nicht so genau, ob sie wegen der Kanzlerin (und ihres Vorgängers) da sind oder ob sie der Regisseur geschickt hat. Etwas klarer ist die Sache bei jenen Statisten, die am Ende des Sängerwettstreits, auf einen Anruf der leibhaftigen Festspielchefin (im Video) hin, anrücken und mit gezogener Waffen auf die Bühne stürmen – um dann zwar nicht die Eindringlinge, aber dafür Tannhäuser abzuführen. Auch eine Weise, um dessen überraschendes „Nach Rom!“ umzusetzen! Als schließlich die Drag Queen in dem ganzen Tumult eine Regenbogenfahne über die Harfe wirft, fragt man sich unwillkürlich, was wohl der Putinfreund im Graben dabei denkt, wenn er es denn mitgekriegt hat.
Im letzten Akt ist der demolierte Wagen der Venus-Truppe unter einer Werbetafel gestrandet, auf der jetzt Le Gateau Chocolat Reklame für Luxusuhren macht. Das System hat mal wieder erfolgreich die Außenseiter absorbiert. Oscar nutzt seine Blechtrommel jetzt, um sich darin was aus dem Glas warm zu machen, und ein Revoluzzerplakat dient nur mehr als – Klopapier. Was bei der letzten Begegnung von Wolfram und Elisabeth als Sex im Auto hätte schief gehen können, wird zu einem berührend packenden Bild. Er zieht sich die Clowns-Klamotten Tannhäusers über, um bei ihr doch noch zu landen. Als er dann aber Skrupel kriegt und sich zu erkennen gibt, besteht sie auf der Verkleidung. Trauriger kann ein Liebesversuch kaum scheitern. Am Ende halten Tannhäuser und Wolfram die tote, blutüberströmte Elisabeth im Arm, die sich die Pulsadern aufgeschnitten hat. Der erste Selbstmordversuch war das nicht – im zweiten Akt waren die entsprechende Wunden an den Armen zu sehen. Doch auf der Leinwand flimmert ein Film, in dem man Elisabeth und Heinrich gemeinsam hinterm Steuer des Citroën sieht, wie sie ins Irgendwo entschwinden. Da träumt einer vom kleinen Glück. Im beiden Welten, der freien wie der etablierten, lässt sich’s nur im Traum leben. Oder auf der Leinwand.
Kratzer und seinem Ausstatter Rainer Sellmaier ist eine kluge, streckenweise sogar witzige, sehr heutige „Tannhäuser“-Variante gelungen, wie man sie lange nicht gesehen hat. Und wie sie nach Bayreuth gehört. Viele Bravos für die Sänger, den Chor (mit seinem Leiter Eberhard Friedrich) und das Regieteam. Und hörbare Buhs für den Dirigenten – also genau richtig. Im nächsten Jahr wird Axel Kober im Graben stehen.