Der Intellektuelle Hoffegut (Marlin Miller) inmitten der Vogel-Gesellschaft, in Erl ein Theaterkollektiv, das sich beständig selbst bespiegelt.

Intelligenter Luxus

Walter Braunfels: Die Vögel

Theater:Tiroler Festspiele Erl, Premiere:20.07.2019Regie:Tina LanikMusikalische Leitung:Lothar Zagrosek

Aus Aristophanes‘ drastischem Satyrspiel über Borniertheit, wankende Machtstrukturen und ein von kleinlichen Interessen torpediertes Staatsgebilde machte der halbjüdische Komponist Walter Braunfels etwas ganz anderes: In seiner 1913 begonnenen, durch den Ersten Weltkrieg unterbrochenen Komposition auf ein eigenes Textbuch geht es um die Weltfremdheit ästhetisierender Eliten und die kaum erfüllbare Sehnsucht nach dem Fremden, Anderen, Unerreichbaren. Braunfels‘ durch Bruno Walter 1920 im Münchner Nationaltheater uraufgeführte Oper, die Hans Pfitzners „Palestrina“ in der Publikumsgunst spielend in den Schatten stellte, hält in Hinblick auf melodische Fülle, orchestralen Glanz und dramaturgische Gedrängtheit den Opern von Strauss, Schreker und Korngold problemlos stand. Umso befremdlicher, dass außer der etwa am Theater Osnabrück oder der von Arthaus veröffentlichten Produktion der Los Angeles Opera Begegnungen mit diesem Kassenmagnet der 1920er Jahre (noch) selten sind. Das Publikum im vollen Erler Festspielhaus war begeistert. Interimsleiter Andreas Leisner zeigt in seinem einzigen Festspielsommer, welche konzeptionelle Richtung die Tiroler Festspiele unter Bernd Loebe in der Mitte des Festspieldreiecks Innsbruck, München, Salzburg nach der Demission Gustav Kuhns nehmen könnten: als Ausnahmeort für Ausnahmeopern wie „Die Vögel“ oder den musikalisch hochrangigen „Guillaume Tell“ vor genau einer Woche, nicht für noch einen „Ring“ oder Wiederverwertungsanlage für abgespielte Produktionen in erreichbarer Nähe liegender Opernhäuser.

Sie erkennen und sie entdecken sich: Die Begegnung zwischen dem eleganten, aber vernagelt-verklemmten Intellektuellen Hoffegut (Marlin Miller) mit der als Künstlerin wie Mensch gar wundersamen Primadonna Nachtigall (Bianca Tognocchi) ist ein ekstatischer Akt, eine hymnisch jubelnde wie zerfleischend schmerzliche Kernverschmelzung von Sinnlichkeit und Poesie. Nach dieser Szene versteht man die Überreiztheit kultureller Trends vor dem Ersten Weltkrieg besser. Braunfels‘ Nachtigall ist Wagners Waldvögelein und Strauss‘ Zerbinetta in Personalunion und Hoffegut ein Siegfried, welcher der Vöglein Sang am Ende nicht mehr versteht. Prometheus taucht in Erl auf wie ein metaphysischer Clochard (packend: Thomas Gazheli). Dieser Klon aus Walvater Wotan und Charles Bukowski warnt die Vogel-Gesellschaft vor leichtfertiger „splendid isolation“ in ihrer zwischen den Göttern oben und Menschen unten schwebenden Burg. Schuf Braunfels mit dem lyrisch-phantastischen Spiel seine Wagner überwindende Anti-Utopie auf den „Ring des Nibelungen“? Auch unter diesem Aspekt wäre die Erler Stück-Entscheidung des Sommers 2019 programmatisch.

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Tina Lanik, die es seit 2014 immer mehr zum Musiktheater drängt, macht sich nicht die Mühe, eine Verbindungslinie von Aristophanes zu Braunfels zu legitimieren. Ihre Definition der Vogel-Gesellschaft mit der quirlig spielfreudigen Chorakademie / Capella Minsk (Einstudierung: Olga Yanum) schafft eine Ebene über nur visueller Gefälligkeit: Vögel sind auch Menschen. Schnäbel, Flügel, Federn bleiben im Fundus. Tina Lanik kokettiert mit den Kontrasten von Schein und Sein in „Ariadne auf Naxos“ und operiert wie für eine intelligente Operette: Aus dem hellen Zuschauerraum kommen der spießige Ratefreund mit Trachtensakko und vokaler Deftigkeit (Julian Orlishausen), der intellektuelle Klemmi Hoffegut auf ‚Die Bühne ist eine Bühne ist eine Bühne‘. Schauplatz: Ein Saal mit gekennzeichneten Notausgängen. In diesen setzte Bühnenbildner Stefan Hageneier ein Podest, und darauf noch eine kleine Raumschachtel, Zwischending aus Künstlergarderobe und Kreativzelle. Die Vögel sind ein Theaterkollektiv, das sich für den Nabel der Welt hält und trotzdem immer wieder angekränkelt wird von der Ahnung, dass diese mit viel Energie selbst suggerierte Bedeutung doch größer sein könnte als der tatsächliche Einfluss auf die Geschicke der Gesellschaft. Eine einzige Tänzerin (Anastasiya Maryna) unterliegt im heftigen Kampf gegen den von den olympischen Göttern geschickten Sturm. Und schon ist es aus mit dem Backstage-Wunder, in dem der Chor mit Klavierauszügen durch den Raum wirft und mit Selbstgefälligkeit künstlerische Autonomie behauptet. Erst bedecken Heidi Hackls üppig schöne Abendkleid-Kreationen die dann mit rapider Gewalt implodierende Pracht poetischer Verwandlungskunst. Am Ende füllen zugeknotete Plastiksäcke den Saal, nichts erinnert an die in ihrer Dekadenz so wahrhaften Gedankentürme. Vorbei der Zauber vom „Leben der Anderen“, in dem sich Ratefreund lässig, Hoffegut aber mit Leib und Haaren verliert. Nach der Pause war der Saal leer. Visionen, Probe, Spiel und innere Wahrheit verwirbelten und vezwirbeln sich wie Braunfels‘ meisterhafte Partitur, in der Chor und Soli mit üppigen Klanggemischen verschmelzen und vergehen. Sehr gut sie alle: Adam Horvath (Zeus/Adler), Sabina von Walther (Zaunschlüpfer), James Roser (Wiedhopf, der zum Vogelkönig, hier also Theaterchef gewordene Mensch), Attila Mokus (Rabe), Giorgio Valenta (Flamingo), Svetlana Kotina (Drossel), Lauren Urquhart (Nachtigall 2).

Lothar Zagrosek, der in der Decca-Reihe Entartete Musik „Die Vögel“ 1996 eingespielt hatte, ermutigt gleich bei den ersten Akkorden die Streicher mit kräftigem Nicken zu mehr Unruhe im seidigen Sound. Das bunt aus internationalen Musikerinnen und Musikern zusammengesetzte Orchester der Erler Festspiele zeichnet sich durch einen jungen, geschmeidigen und profund bis rund ausbalancierten Klangcharakter aus. Zagrosek macht aus der mit fast überreizter Verschwendungslust instrumentierten Partitur ein echtes Festspiel: intelligenter Luxus, dessen Gefährdungen Tina Lanik menetekelnd bebildert. In der großen Liebes- und Erweckungsszene von Nachtigall und Hoffegut ziehen Bianca Tognocchi und Marlin Miller überwältigend schön alle Register: Rausch, Verletzungsrisiko und Gesang als Synthese von Sex und Metaphysik. Nur zwei Vorstellungen dieser Produktion sind zu wenig!