Erstmal singen die Jugendlichen Bob Dylans „Knockin‘ on heavens door“. Der sentimentale Orpheus (Daniel Preis) wird das später mit Fäustetrommeln auf dem Eisernen Vorhang illustrieren, wenn seine hochgetunte tenorale Geschmeidigkeit nicht ausreicht, qua Allmachtswahn das Objekt seiner Begierde dem Elysium wieder zu entreißen. Der Höllenmeister (Frank Schneiders) als Türsteher des Totenreichs ist nicht zu becircen, hat bestimmt Elfriede Jelineks „Schatten (Eurydike sagt)“ gelesen und kritisiert Orpheus, Eurydike als seine Frau zu bezeichnen, das sei schon „sehr besitzergreifend“.
Was die Jugendlichen der Abwesenheit entreißen wollen? Etwa die verstorbene Oma und ihren Erdbeerkuchen. Oder das vom Krieg zerstörte Familienleben in Syrien, abwesende Väter, eingeschläferte Haustiere, im Iran zurückgelassene Freunde, die sorglose Kindheit, den Rummelplatz des Heimatdorfes und einfach das Blinken von FRITZ!Box: das seit Wochen daheim nicht mehr funktionierende Internet. Getanzt, gesungen, poetisch verklausuliert oder gar mit emphatischem Schmerz vorgetragen wird all das, mal auch als Whatsapp-Chat eingesprochen. Da der Abend als „partizipative App-Oper“ angekündigt ist, erkunden die Jugendlichen live auf ihren Tablets auch die Variationsbreite von per App generierten Soundscapes, manipulieren das Material, applizieren Klangeffekte und mischen Sprachaufnahmen hinein – wollen per Geräuschkulisse das Vermisste evozieren. Im Gegensatz zu professionellen Programmen zum Musizieren, Mixen, Komponieren ist das eher Spielerei, es geht um Loopen, Verzerren, Rauf- und Runter-Transponieren, um das Imitieren von Instrumenten.
Es übernimmt das Staatsorchester und bietet unter der Leitung von Cameron Burns höchst elegant die Ouvertüre von Glucks „Orfeo ed Euridice“ dar. Daniel Preis singt die Arien des Protagonisten vom Verlust der Angebeteten und spielt diesen mit Kollegin Marlene Gaßner nach. Wobei beide eher ineinanderrasseln als in zärtlichen Gefühlen erglühen. Sie, eine Joggerin, rennt ihn, den Lyra-Rocker, um. Minuten später wilde Küsse. Dann legt sie sich nieder. Angesichts des Premierenwetters ist Hitzschlag zu vermuten. Vergebliche Wiederbelebungsversuche. Schöne Totenklage des Opernschnulzensängers. Da ist der Höllenmeister dann doch gerührt. Lässt alle ein ins Reich der Schatten, das im Schwarz-Weiß-Design quadratischer Lichtpixel apart gestaltet ist (Bühne: Sarah-Katharina Karl). Die Jugendlichen begegnen nun den Vermissten, die von Opernsängern dargestellt werden. Was ein spannendes Hin und Her aus zirzensisch intoniertem Rezitativ und schnoddrig artikuliertem Jugendjargon ermöglicht. Auch wird mal Doubletime-Rap mit ariosem Gesang konfrontiert. Im steten Bemühen, das Nebeneinander als gleichwertiges Miteinander zu inszenieren.
Da Glucks Werk ja auch Ballett-Divertissement beinhaltet, werden die Darstellermassen auch in Hannover in Bewegung versetzt. Wobei dann alle ungefähr gleichzeitig einen sehr ähnlichen Motionskanon interpretieren. Eine Choreografie des Gewusels. Das nun auf der Bühne platzierte Orchester ordnet das Geschehen mit parzellierten Klangereignissen. Mal grazil dahingetupft oder fahl schwebend, dann störrisch, kantig, kratzig, zwitschernd, gurgelnd, mal jazzig pulsierend oder an einen Bassdrum-Beat gekuschelt. Vivian und Ketan Bhatti haben aufgeklärte Filmmusik komponiert, die nicht mit dem Zitieren der Spätromantik endet, sondern zeitgenössische Tonsetzerkunst und Geräusche mit einbezieht. Dass dabei App-Musik verarbeitet wird, ist nicht zu hören, das muss man wissen. Ab und an fällt dann auf: Sich allein an der schlichten Funktionsweise einer Musik-App zu orientieren, scheint fürs frei kreative Komponieren nicht zukunftsträchtig.
Die Initiative in Sachen Schlussbotschaft übernimmt eine Teenagerin, indem sie sich von schmerzlichen Erfahrungen mit ihrer Mutter befreit. Diese kommt aufgemotzt stolzierend im lichterkettenbehängten Schmetterlingskleid daher und bekommt zu hören: „Ich will, ich brauche dich nicht mehr.“ Daraus lässt sich dann wie bei Gluck ein Happyend generieren. Das gesamte Ensemble stürmt an die Rampe. Orpheus stöhnt genervt, „mein Gesinge war umsonst“, und die Jugendlichen verkünden, zurückzuschauen bringe nichts. Die Vergangenheit, Stichwort: digitale Unsterblichkeit, die „bleibt uns für immer, sie kann Andenken sein“ – aber nicht Lebensinhalt. Nur wer die Grenze zieht, Abschied nehmen, Trauer bewältigen, loslassen und den Blick hoffnungsvoll nach vorn richten kann, erhält Chancen auf des Lebens Glücksmöglichkeiten. Das ist jetzt etwas plump. Aber die nachdrücklich behaupteten, eindringlich vorgetragenen Sehnsüchte der Beteiligten und die großenteils differenzierende Untermalung durch die uraufgeführte Musik lassen den Abend triumphieren. Nicht nur für Freunde und Angehörige. Leider verabschiedet sich das aufwendige Werk bereits nach der Premiere und nur zwei Vormittagsvorstellungen in die Unterwelt des Theaters. Wird durch keine App mehr lebendig. Aber hier verewigt als ein Beispiel, in dem partizipativ ziemlich viel richtig gemacht wurde.