Foto: Formiert sich zum Gruppenbild: das hochkarätige Ensemble der Dance Company Eric Gauthiers in "Decadance" © Regina Brocke
Text:Manfred Jahnke, am 28. Juni 2019
„Classy Classics“: So ein Titel im Tanztheater lässt an wunderbare Pas de Deux zum Beispiel in „Schwanensee“ denken. Wenn aber Eric Gauthier einen Abend seiner Dance Company am Theaterhaus Stuttgart so benennt, ist klar, dass er weniger Spuren aus dem 19. Jahrhundert nachverfolgt, sondern damit die Formen des Modern Dance meint. Das ist ganz programmatisch zu verstehen, denn „Classy Classics“ ist die Eröffnung der dritten Ausgabe des „Colours. International Dance Festival“ am Theaterhaus Stuttgart. Hier zeigen herausragende Choreografen aus allen Kontinenten noch bis Mitte Juli ihre neuesten Produktionen. Darüber hinaus setzt sich Gauthier das Ziel, möglichst viele Menschen mit dem Tanz vertraut zu machen. Etwa mit „Colours in the street“ oder Angeboten für Kinder an so tanzuntypischen Orten wie dem Stuttgarter Zoo „Wilhelma“ will er den Tanz populär machen. Die hochkarätigen Produktionen im Theaterhaus einerseits und andererseits die Vermittlung an ein breites Publikum (und zwar mit der Aufforderung zum Selbermachen!) sind für ihn gleichermaßen wichtig.
Auch „Classy Classics“, die Eröffnungsinszenierung des Festivals, ist Programm. Zum Stil von Gauthier gehört, dass er an einem Abend gerne mehrere kleine Stücke von verschiedenen Choreografen in Szene setzen lässt. So auch bei diesem Opening: Sein 18-köpfiges Ensemble studiert alte und neue Choreografien ein, die einen Teil der Geschichte des gegenwärtigen Tanzes markieren. Die Choreografien stellen dabei an die Körper der Tänzerinnen und Tänzer die höchsten Ansprüche, müssen darüber hinaus einen decodierbaren inhaltlichen Bezug haben und schließlich auch noch unterhaltsam sein. Nicht einfach, diese verschiedenen Forderungen zu vereinbaren! Aber Gauthier schafft das. Schon im ersten Stück „Malasangre“ in der Choreografie von Cayetano Soto (2013 erstmals aufgeführt), bewegen sich die sieben Tanzenden in ungeheurem Tempo und mit vitaler Kraft zu der Musik der kubanischen Sängerin La Lupe, die Folklore und Soul miteinander verbindet. Auf dem Bühnenboden sind schwarze Stoffschmetterlinge verstreut, die von der Zerrissenheit zeugen, von der die Lieder erzählen, und die sich szenisch als vergebliche Annäherung zeigen: Jeder Versuch endet wieder im Abstoßen und setzt sich in körperliche Energie um, die Grenzen zu sprengen scheint. Anneleen Dedroog ragt aus einem starken Ensemble hervor, mit dem Mikiko Arai das Stück einstudierte.
Wenn es um die Moderne geht, darf William Forsythe nicht fehlen. Maurice Causey studiert mit Barbara Melo Freire und Theophilus Veselý den zweiten Teil von „Herman Schmerman Duet“ (1992) ein, ein so klarer wie irritierender und scheinhafter Pas de Deux. Sie tanzt auf Spitzenschuhen, ganz, wie man sich eine Ballerina vorstellt. Aber dieses Bild wird gleich wieder gebrochen, weil er nicht auf ihr Angebot eingeht. Gleichsam beiläufig entwickelt sich ein ganz anderes, spannendes Bewegungsvokabular mit humoresken Zügen. Auch Marco Goecke, seit Anfang 2019 „Artist in Residence“ bei Gauthier Dance, gehört zweifelsohne zu den gewichtigen Vertretern des modernen Tanzes. Mit Theophilus Veselý haben Nicole Kohlmann und Fabio Palombo das Solo „Äffi“ (2005) einstudiert. Zu der Musik von Johnny Cash entwickelt Veselý ein rasantes Tempo, voller schneller Bewegungen. Atemberaubend, wie er fast 14 Minuten allein auf der Bühne im Tanz die Schwere überwindet!
Das nächste Stück, „Orchestra of Wolves“ (2009), gehört zu den beliebten Miniaturen von Eric Gauthier. Zu dem ersten Satz der 3. Sinfonie von Beethoven leitet ein Dirigent ein sechsköpfiges Orchester, das in Wolfsmasken agiert, Während des Spiels rücken die Musiker ihrem Chef immer mehr auf die Pelle, bis am Ende von diesem nichts als ein Haufen gelber Federn übrigbleibt. Wenn die Nummer auch pointenhaft aufgelöst wird, so gelingt es dem Choreografen doch auch, die Bedrohlichkeit der Situation durch aggressive Bewegungsformen zu zeigen. Eigentlich bleibt einem das Lachen geradewegs im Halse stecken.
Schluss- und Höhepunkt des Abends ist „Decadance“ des israelischen Choreographen Ohad Naharin, der alle 18 Mitglieder des Ensembles einsetzt. „Decadance“, 2000 entstanden, wird von Naharin nicht rekonstruiert, sondern er entwickelt zusammen mit der jeweiligen Gruppe in einem improvisatorisch strukturierten Workshop neue Variationen. Wie der Raum hier von der großen Gruppe genutzt wird, die Tänzerinnen und Tänzer sich in immer neuen überraschenden Volten abwechseln – das ist wirklich vom Feinsten! Zu einer Collage, die mühelos arabische Musik mit der der Beach Boys verbindet, ist das Ensemble ständig in Bewegung, alles wirkt ständig im Fluss, bis sich ein Gruppenbild formt. Gauthier hat ein beeindruckendes Ensemble starker Persönlichkeiten zusammengestellt, geprägt von starker physischer Präsenz und emotionaler Intelligenz. Und mit einem atemberaubenden Repertoire an Bewegungsformen ausgestattet: von der Arbeit mit den Händen bis hin zu den kraftvollen, aber immer leicht wirkenden Sprüngen. Kein Wunder, dass das Stuttgarter Publikum das Ensemble begeistert mit Standing Ovations feierte. Wenn der Abend im eigentlichen Wortsinne nicht als Premiere begriffen werden kann, so zeigt er, wie offen die Gruppe für andere Choreografen und für andere Stile ist, wie sie sich ständig weiterentwickelt: Da entsteht etwas ganz Neues – und das ist dann vielleicht doch eine Premiere. In jedem Fall ein beeindruckender Abend!