lm Alltags-Dunst, der wie Bodennebel durch die manchmal eingefrorenen, oft beschleunigt abgespulten Bilder zieht, leuchten die Phantome des schönen Scheins von allen Plakaten und das Elend erlebt die Reklame als höhnende Dauer-Travestie. Wo die Reste von Hoffnung längst verfault sind, liest man das Firmenschild „Point of Paradise“. Wenn zum spektakulären Finale der endgültig aus dieser Welt entwurzelte Außenseiter in der unaufhaltsamen Schizophrenie-Verdunklung seiner gleißenden Gedanken ins Bodenlose stürzt und inmitten von Transparente schwenkenden Demonstranten zum Tagesschau-Spot der grade aktuellen Protest-Berichterstattung umgewidmet wird, beginnen die Zweifel an Tilman Knabes Regie-Trommelfeuer der Aktualisierung zu tänzeln. Es ist sehenswerte Bewegungs-Art.
Die Inszenierung verweigert schlichtweg die Beschränkung auf das individuelle Schicksal (Stütz-These dafür: „Krank ist nicht der Mensch, sondern die Welt“), misstraut vor allem der Abstand haltenden, analytisch kühlenden Kunst-Distanz. Die „inneren Stimmen“, die der Komponist als unsichtbar bleibende Klang-Denkmuster auf seine Besetzungsliste setzte, werden allesamt zum Außendienst verpflichtet. Schon die Planung, dieses offiziell „Kammeroper“ genannte Stück, das kurz nach der Uraufführung 1980 in Nürnberg in karger Studioproduktions-Ausstattung auf der Probebühne gespielt wurde, im Opernhaus neben Wagner und Verdi zu stellen, war die Entscheidung für ein gewagtes Experiment. Das wischt den Genre-Begriff einfach beiseite und macht „große Oper“. Tilman Knabe stülpt das Innenleben seines Helden regelrecht um, statt der Vermutung zitternder Nervenstränge sieht der Zuschauer beim verblüffend vielköpfigen Darsteller-Aufmarsch der maskierten „Stimmen“ eher so etwas wie platzende Schlagadern. Die imaginären Porträts von Jakob Lenz und seinem Fragment-Biografen Georg Büchner, zweier tragisch endender Dichter-Figuren, legt der Regisseur dabei zum Vexierbild übereinander und gewinnt mit dem Verlust der Konturenschärfe von zwei Projektionen den freien Blick auf eine dritte. Überlebenschancen hat auch sie nicht.
Im rasant wandelbaren Bühnenbild von Annika Haller, das mit Banal-Ästhetiken spielt, als seien es Zitatenschätze in der Qualifikationsrunde zur Museumsreife, wird jeder Gedanke mit Stalking-Energie an Realität angedockt und bei Bedarf mit Ironie-Säure wieder abgelöst. Man landet in der Suppenküche, sieht Lenz im Plastikstuhl sarkastisch um Poesie ringen und erlebt, wie das in Slowmotion herbeischwebende Traumbild der verlorenen Geliebten mit einem Senioren-Rollator im Gegenverkehr gekontert wird. Die einäugige Freiheitsstatue persönlich liefert ein Spruchband, das Gaga-Dadaismus an den Ernst der Lage rempeln lässt: „Krieg dem Frieden / Hütten den Palästen“.
Die beiden Betreuer, die einzigen Mitspieler auch in konventionellen Aufführungen von „Jakob Lenz“, sind sorgfältig positioniert. Aus dem Quacksalber Kaufmann wird hier selber ein hysterischer Autor im Konkurrenzdruck, der bei Jakob Lenz nur das „Schlaraffenland verwilderter Ideen“ sehen mag (Hans Kittelmann macht eine Studie der Charakterverkrümmung draus, nah an Wozzecks Plagegeistern), der berufsbedingt so mitleidige wie zölibatäre Pfarrer Oberlin lässt in der pastoralen Umarmung weitergehende Interessen am jungen Genie erkennen (Wonyong Kang spielt eindrucksvoll den wankenden „Gutmenschen“). Am Ende lassen die überforderten Herren ihren Schützling, der so erschreckend „anders“ ist, mit ein paar Rechtfertigungsfloskeln im Blut liegen. Das letzte Wort bleibt ihnen aber nicht. „Konsequent“, diese Forderung ruft er immer wieder, und aus den Zuschauerrängen regnet es Flugblätter.
Jakob Lenz ist auch 40 Jahre nach der Uraufführung eine herausfordernde Protagonisten-Partie für die Bariton-Oberklasse. Musikalisch die alles dominierende Zentralfigur mit artistischen Anforderungen beim Surfen auf den Wogen einer weit gefassten Klangwelt, in der Keuchen und Schreien neben höchstem Falsett und tiefstem Brummeln wie selbstverständlich mit phantasievollen Andeutungen von Opernkonvention verbunden sind. Darstellerisch wurde es in der Knabe-Regie, die alle Fluchtwege in Sturm-und-Drang-Romantik verbaut und für ihre Sicht absolute Hingabe verlangt, schwieriger als sonst. Der bei der Premiere zurecht gefeierte Hans Gröning kennt die komplexe Aufgabe bereits aus einer früheren Produktion und hatte offenbar kein Problem, diesmal ganz anders zu spielen. Er wirft sich in den aufschäumenden Realismus, der da über allen Protest- und Schock-Momenten wie eine 80-minütige Sturmwelle zusammenschlägt, und beherrscht die vokale Berg- und Talfahrt souverän.
Dirigent Guido Johannes Rumstadt leitet das kleine, sehr feine Solisten-Ensemble der Staatsphilharmonie, will weder die Regie unterlaufen noch hinter ihrer Plakatwand verkümmern. Er umkreist das personenreiche Sänger-Tableau und etabliert die „Kammeroper“-Intimität der Partitur als Gegengewicht zum Spektakel, bringt die immer noch umweglos wirkende Emotion ins Spiel. Das hat enorme Mehrwert-Qualität, denn so funktioniert die ganze Aufführung vom Ausgangspunkt der Vereinigung von Lenz und Büchner wie eine flirrende Spiegelung. Die akademische Frage, ob es für die Interpretation von Rihms Oper nur die einzige Möglichkeit analytisch kühler Exegese geben darf, hatte ja Andrea Breth in Stuttgart längst beantwortet. Tilman Knabe wagte in Nürnberg noch mehr. Und was der blutüberströmte Titelheld vor dem Blackout immer wieder als Vermächtnis über die Rampe ruft, könnte auch seinem Regisseur als Lob gelten: „Kon-se-quent“. Das Publikum hat sich etwas geduckt unter dem Wahrheits-Beschuss – und die Aufführung samt Regisseur dann lang anhaltend gefeiert.