Neben den fallenden Tassen und dem Lieblingssong der Kellnerin („Bette Davies Eyes“), der Katharina Hauter anrührende Züge gibt, zeigen der intensive Einsatz von Bühnennebel und ein aufflammendes Streichholz in der Hand von Sebastian Röhrle im Halbdunkel der Bühne die Uhrzeit 8.55 Uhr an. Zum Ende hin schüttet Robert Rožić rote Flüssigkeit in die Gesichter seiner Mitdarstellenden. Aber nicht nur das Spiel mit der Zeit kennzeichnet die Dramaturgie Schimmelpfennigs, sondern ebenso, dass es mit Ausnahme der Kellnerin keine festgelegten Rollen gibt. Diese wechseln im Ensemble, wobei Alters- und Genderzuschreibungen bedeutungslos sind. So spielt zum Beispiel Reinhard Mahlberg, ein Mann um die 60 Jahre, ein 17jähriges Mädchen, das Friseurin werden will und Songs der Pixies hört, ein Greis hingegen wird von allen einmal vorgestellt. Darüber hinaus perfektioniert Schimmelpfennig in „100 Songs“ seine auktoriale Erzähltechnik: Eine Handlung wird von einer Person erzählt und dann von einem anderen ausgespielt. Was man einst „illustrativ“ nannte, wird hier zur Kunstform erhoben.
Aber dem Autor reichen die vielen Geschichten von Menschen noch nicht, die um (scheiternde) Liebe im Alltag kreisen, ebenso wenig die zeitliche Rahmung. Er nutzt ein weiteres mythologisches Motiv, das sich mit Pferden verbindet: zunächst Sleipnir, Odins Pferd mit acht Beinen, die, wo sie den Boden berühren, alles zerstören, oder Al-Buraq, das geflügelte Pferd Mohammeds, schließlich die vier Reiter in den Wolken, die unter anderem den heiligen Geist verkörpern. An Symbolik, die den Ritt in die Apokalypse anzeigt, fehlt es nicht. Die Wendung ins Komische auch nicht, wenn Alexandra von Schwerin in der Rolle als Stripperin ein geflügeltes Pferd aus Plastik zeigt, das sie ihrem Sohn zum Geburtstag schenken will.
Mit großer, anarchischer Lust spielt das Ensemble auf, zu dem noch Anne-Marie Lux gehört, die vorwiegend schwarz trägt (Kostüme: Lane Schäfer unter Mitarbeit von Verena Salome Bisle). Das Ensemble kann alles: von der tragischen Pointe bis hin zur Karikatur. Und 100 Songs? Die „Playlist“ im Programmheft zählt 26 Titel auf, von Bachs „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ bis „Something stupid“, von „San Francisco“ bis Deep Purples „Smoke on the water“, letzterer einer der wenigen Titel, der eingespielt wird. Ansonsten werden die Songs zumeist gekonnt a capella vom Ensemble gesungen. Da die meisten Titel berühmte Songs aus 1970er, 1980er Jahren waren, sang das Publikum Zeilen leise mit. Bei Szenen, die atmosphärisch gerahmt werden (Komposition: Hannes Gwisdek), machen die Spielenden selbst die Instrumentierung, mal mit Harmonium, von Katharina Hauter bedient, oft mit Klangschalen und Glöckchenspielen. Entstanden ist so ein unterhaltsames, aus Puzzleteilen zusammengesetztes Panoptikum im Angesicht der Apokalypse.