Foto: "The Circle", hier: Sayaka Shigeshima (Mae), Opernchor des DNT und Extrachor aus Studierenden der HfM FRANZ LISZT Weimar © Candy Welz
Text:Roberto Becker, am 5. Mai 2019
Dave Eggers‘ 2013 erschienener Bestseller „The Circle“ ist eine Dystopie. Sie malt den Sieg des digitalen Totalitarismus an die Wand, in der Gesellschaft und im Bewusstsein der Protagonistin Mae Holland. Wenn dabei das offensichtliche, große Pro im nicht ganz so offensichtlichen Contra nicht unterschlagen wird, gehört das zur Wirkungsstrategie des Autors. Im Roman werden die Annehmlichkeiten einer schönen neuen, allerdings den ganzen Menschen und seine gesamte Zeit absorbierenden Arbeitswelt ausführlich beschrieben. Der Anpassungsdruck auf jeden einzelnen wird nur noch als freiwillige Selbstoptimierung wahrgenommen. Diese Warnung funktioniert im Roman wie in der nun uraufgeführten Oper von Ludger Vollmer, weil beide die Dialektik, die noch jedem Fortschritt neues Zerstörungspotenzial zur Seite stellt, nicht unterschlagen.
Der Triumph des Digitalen hat sich in den sechs Jahren seit Erscheinen des Buchs der Romanwirklichkeit in einem atemberaubenden Tempo angenähert. Sie hat den Roman sogar im entscheidenden Punkt, nämlich dem des politischen Missbrauchs, überholt. Es ist schon eine entlarvende Pointe, dass sich die Verhandlungen über die Rechte für eine Oper mit Eggers‘ Agentur erst lange hinzogen und das Projekt sogar ganz zu scheitern drohte (so Ludger Vollmer), dann aber, zwei Tage nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, die Zusage kam. Dabei wird das Phänomen Trump und dessen „Erfolg“ mit selbsterschaffenen „alternativen“ Fakten gerade mal als Möglichkeit angedeutet. Wurde hier die Idee von Fake News und alternativen Fakten zur gewählten Wirklichkeit, weil sie die Massen bzw. die Follower ergriff?
Der Plot selbst kommt nicht hochtrabend daher. Die klugen, warnenden Sätze hat ohnehin der einfach gestrickte Ex-Freund der Protagonistin Mae, deren Blitzkarriere im IT-Weltkonzern Circle wir verfolgen. Wobei es schon erstaunlich ist, welches Maß an reflektierendem Durchblick diesem Mercer zugebilligt wird. Den stellt man sich als eher gemütlich bodenständigen Normal-Amerikaner im karierten Hemd vor, der seine Erfüllung in der Herstellung von Kronleuchtern aus Geweihen findet, und dem seine Internetpräsenz schnuppe ist. Genauso sieht er auf der Bühne bei Oleksandr Pushniak auch aus. Sayaka Shigeshima stattet die Mae mit dem quicklebendigen Eifer einer zu allem entschlossenen Aufsteigerin aus. Sie gönnt sich zwar kleine Ausbrüche aus dem normativen Druck der Verhaltensregeln, die den Aufstieg garantieren, in den entscheidenden Momenten unterwirft sie sich aber den Erwartungen der Circle-Bosse. Sie ist innerlich so bar jeder Wertmaßstäbe, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht.
Die „drei Weisen“ des Circle, sprich seine drei Bosse, sind Typen, die im Habitus und ihren inszenierten Auftritten Steve Jobs oder Mark Zuckerberg nachempfunden sein könnten. Eamon Bailey (Daeyoung Kim) ist das Gesicht der Firma, Sebastian Kowski in der Sprechrolle des Tom Stenton sozusagen der Kapitalist. Als der Dritte im Bunde hat der Counter Ray Chenez das Privileg, als der eigentliche Erfinder und geniale Kopf des hinter dem ganzen digitalen Feuerwerk steckenden Ty, den Zauberlehrling zu geben. Der fängt (unerkannt als Kalden) mit Mae eine Liebesbeziehung an und hofft mit ihrer Hilfe, den Wahnsinn, den er losgetreten hat (vor allem weil er es konnte), zu stoppen. Diesem Ty billigt Vollmer eingängig Melodisches zur Gitarre zu, aber dass er mit seinem Versuch, den entfesselten Strom wieder zu stoppen, scheitert, geschieht dann doch szenisch und musikalisch allzu beiläufig.
Ludger Vollmers Musik ist durchgängig theaterwirksam und lebendig. Sie amalgamiert flott den längst eigenständigen globalen Internetklang, der es als Mahnung (und als Störung) längst zu einem Stammplatz auch vor und in jede Opernvorstellung geschafft hat. Bei den großen Shows der Bosse klingt die Motivation nach Gospel-Rhythmen, wenn von Vergangenheit die Rede ist, nach indianischer Folklore oder gar Mozart. Meist aber nach vor allem dem Text verpflichtetem, pragmatischem Parlando. Das funktioniert im Wechsel mit den gesprochenen Passagen, doch bleibt die Musik vor allem im ersten Teil des dreistündigen Abends oft auch kleinteilig und mitunter kurzatmig auf die schnell wechselnden Szenen bezogen. Beeindruckend, wie Kirill Karabits die Staatskapelle durch diese, nicht avantgardistische, aber eklektizistische Klangmelange steuert. Einmal kann man selbst ihn dank einer Überwachungskamera an seinem Pult auch dabei beobachten.
Die Musik wird dichter, intensiver, als die Katastrophe ihren Lauf nimmt und die total transparente Mae und ihre mittlerweile Millionen Follower, nach einer öffentlichen Jagd auf eine gesuchte Mörderin, auch ihren Ex-Freund Mercer aufspüren und ihn damit in den Selbstmord treiben. Mae ist zu diesem Zeitpunkt in ihrem Inneren so leer, dass sie das ebensowenig erschüttert wie der Zusammenbruch ihrer Freundin Annie (Heike Porstein). Die ist ins Koma gefallen, weil sie als Pionierin eines neuen Programms, das die Geschichte jeder familiären Abstammung über Generationen zurückverfolgen kann, Dinge über ihre Vorfahren erfuhr, die sie nicht verkraften konnte. Maes Problem ist dabei vor allem, dass Annie in diesem Zustand ihre Gedanken für sich behält.
Raimund Baier (Bühne), Svenja Gassen (Kostüme) und René Liebert (Video) liefern einen stimmigen adäquaten szenischen Rahmen. Die Personenführung ist bei Regisseurin Andrea Moses maßgeschneidert. Die Großbildschirme, die angedeuteten Arbeitsplätze, das Ehebett der Eltern (Chang-Hoon Lee als Vater, Anne-Kathrin Doormann als Mutter), die gut gemachten Video-Raumimaginationen auf der Bühne und die Einbeziehung des Zuschauerraums bei den Präsentationen neuer Ideen durch die Chefs sind ein adäquater Rahmen für eine gruselige Vision. Über die der eine oder andre womöglich am Ende der Vorstellung seinen Eindruck in irgendein soziales (?) Netzwerk speist. Oder doch zögert?