Foto: Barno Ismatullaeva als "Madama Butterfly" mit Jana Beck als "Kind" (liegend) © Ludwig Olah
Text:Dieter Stoll, am 24. März 2019
Beinahe wäre es diesmal sogar gut ausgegangen: Die „Butterfly“ genannte japanische Freudenbringerin für solvente Herren hat den amerikanischen Besatzungsoffizier in Nagasaki nach dem erotischen Deal einer Scheinvermählung, die sie freilich nicht als Affäre, sondern als Lebensentwurf betrachtet, zum sofortigen Eheglücksvollzug gebeten. Harter Schnitt, neuer Aspekt: Kaum entledigte sich die Teilzeit-Geisha für den interfamiliären Nahkampf ihrer Traditionstracht, saust auch schon ein lachendes Kind aus der Kulisse und klaut dem Papa übermütig die Uniformmütze. Lässt man medizinische Fristen mal ganz beiseite, bleibt die dringliche Frage, ob er diesem Ansturm von überraschender Niedlichkeit ernsthaft widerstehen kann. Aber dann ist Pause in der Nürnberger Neuinszenierung von Giacomo Puccinis „Madama Butterfly“ – und nach dem Sekt sieht das kleine Mädchen noch genauso altklug aus wie vorher, während das sehnsuchtsvoll vereinsamte Warteschleifen-Housewife mit dem asiatischem Ehrenkodex vom kinderlos verschwundenen US-Mann an ihrer Seite weiterträumt und bis zu dessen illusorisch erhoffter Wiederkehr im eigenen Häuschen demonstrativ für Übergangs-Leitkultur durch Micky Maus sorgt. Der abgereiste Fake-Bräutigam, der Mann, der zu wenig wusste und in der Ferne der Vereinigten Staaten inzwischen die weitaus blondere Business-Ehefrau mit Mannequin-Maßen für die Echtzeit erwählte, kommt nach Jahren in Begleitung nur zum kurzen „Sorry“ mit kleiner Abschiedsarie vorbei – und drückt sich.
Es geht also gar nicht ohne den Sog von Harakiri bei diesem Schaumschlag von Schicksal. Das war dem Team der diskret gegenwärtigen, jedenfalls nicht auf Zeit festgelegten Melodrama-Produktion natürlich klar, doch den Weg dorthin wollten sowohl die Regisseurin wie der Dirigent bei ihren Interpretationen offenkundig abschirmen gegen die gefürchteten Schnulzen-Wucherungen im komplexen Werk. Tina Lanik, am Bayerischen Staatsschauspiel etablierte und zunehmend auch an der Oper interessierte Regisseurin, versetzt die Handlung in einen stilisiert realistischen, dominant vieldeutigen Raum. Bühnenbildner Stefan Hageneier baute dafür das japanische Modell-Wohnhäuschen, in dem die verlassene Cio-Cio-San an ihrem Trauma klammert, zum Metaphern-Monument aus, das in etwa gleichen Teilen ein- und aufdringlich wirkt. Schiebetüren, sonst meist leichtgewichtige Abgrenzungen aus Spezialpapier, zerschneiden hier für mobile Gefängniszellen mit meterhohen schwarzen Gitterwänden die Existenz. Die schleichende Mutation von der Wohnzelle zur Grabkammer gibt die schwer erfüllbare Stimmungslage vor. Fast unmerklich schrumpft die Bewegungsfreiheit auf der verbleibenden Überlebensfläche, bis am Ende der Platz für den diskreten „Ehrentod“ nicht mehr reicht. Wenn „Butterfly“ vor den Augen ihres Kindes stirbt, legt die angereiste Stiefmutter im Mannequin-Design die Zigarette beiseite und zerrt das Mädchen im Auftrag des Herrn hinüber in die neue Welt.
Die Hoffnung auf differenzierte Personenregie, die mit dem Eingreifen von Theatermachern aus dem Schauspiel bei Opernproduktionen als gesetzt gilt, schlägt bei Tina Lanik wunderliche Kapriolen. Sie fährt zunächst auf Unterkühlungstemperatur und watscht die komplette Männerwelt ab. Der angeschmuddelte Marineleutnant Pinkerton (Tadeusz Szlenkier) lässt auf dem Sofa fläzend ein Dosenbier zischen, wenn er das Sonderangebot aus dem Geisha-Sortiment sichtet und vertreibt, wie der ebenfalls stolz Unterbauchgröße mit Shirt-Körpernähe tragende Konsul Sharpless (Sangmin Lee), letzte Zweifel daran, was diese schönen Bodys formte. Der schmierige Makler Goro, der einen Leguan als ständigen Umhänge-Begleiter krault wie Hogwarts-Hausmeister Filch seine Katze, passt zum Klischee-Arrangement: Hans Kittelmann krümmt sich in Stimme und Körpersprache. Die Titelheldin darf mehr Emphase mit doppeltem Boden zeigen, sie ist nicht nur das zwischen den Kulturen zerriebene Opfer der Verhältnisse, sondern macht sich selbst zum aktiven Teil des Systems.
Die junge usbekische Sopranistin Barno Ismatullaeva ist schon opernweltweit unterwegs mit der Partie, aber offen für die Ahnung von dunklen Schattierungen auf der Seele. Mit stabiler, schnell zur Dramatik durchstoßender Stimme samt gelegentlich spitzigen Höhepunkten und mit viel schauspielerischem Geschick lässt sie hinter der rituellen Sanftmut der Figur etliche Facetten von Berechnung und Hysterie, aber eben auch den Kampf beim Verlöschen von Hoffnung erkennen. Solche Chancen bekommt Tadeusz Szlenkier, der polnische Schmettertenor mit erprobter Puccini-Wucht, nirgends. Die Regisseurin stempelt ihn gleich doppelt ab, wenn der Macho von einst den Feigling von heute gibt und das zickige Model seiner Wahl weinerlich zum Aufräumen der Trümmer schickt. Für die Tenor-Leuchtspur findet Lanik jedoch immer die passende Abschussrampe dicht am Bühnenportal und bei plötzlicher Tableau-Versammlung der Solisten mag sogar ein wenig Ironie mitgewirkt haben. Sangmin Lee schiebt als Sharpless sein mächtiges Corpus mit ebensolcher Vokalenergie am Rand der Handlung entlang. Noch auffälliger ist „das Kind“ (Jana Beck), das von der Regie gar nicht mehr aus den Augen gelassen wird. Es bleibt so wortlos wie immer, doch mit seinem Traumtanz zur Morgengrauen-Musik erreicht es den Siedepunkt der Entzückbarkeit beim Publikum.
Dirigent Guido Johannes Rumstadt bleibt mit seinem Puccini-Sound durchgehend nah an der Regie. Die raffinierte Kolorierung der Komposition taucht beiläufig wie ein Lichtspiel auf, die überbordende Leidenschaft wird kühl exekutiert, der Weg von der emotionalen Basis zum vokalen Gipfelsturm ist immer geräumt. Mit klarer Haltung wird deutlich, was an emotionaler Kraft in der Komposition steckt, ohne dass sich der Interpret dieser Urgewalt ausliefert. Die Kontrastschärfe zwischen elegischer Poesie und aufbrausender Dramatik wirkt beim Orchester der Staatsphilharmonie entspannter als in der Szene und das fließende Tempo entzieht dem Gemüt die Gemütlichkeit.
Vergleicht man die letzten Nürnberger Puccini-Produktionen mit dieser, also Calixto Bieitos „Turandot“ und die „Tosca“ des inzwischen als Staatsintendant angetretenen Jens-Daniel Herzog mit Tina Laniks „Madama Butterfly“, ist das Neueste trotz aller Detail-Widerhaken das Konventionellste, weil es die große eigene Interpretation denn doch einfach bleiben lässt. Das wurde vom Premierenpublikum sehr gefeiert.