Foto: Die Leipziger Tänzerinnen und Tänzer auf dem Weg zur spirituellen Öffnung © Ida Zenna
Text:Roland H. Dippel, am 10. Februar 2019
Mario Schröder, der dem Ballett Leipzig bei der Kreation seines „Magnificat“ für die intensive Mitgestaltung dankt, tut es offenbar John Neumeier nach, wenn er in der Bachstadt zu einem Bach-Ballettzyklus ausholt: Neben beeindruckenden Bildern gibt es zwischen den Sätzen des titelgebenden „Magnificat“ unerwartete Akzente. Ganz ohne Brüche zwischen Tanz und Musik gelingt die Synthese von Orient und Okzident, von Choreographie und Ambiente allerdings nicht. Doch an einigen Stellen befreit sich die Musik aus dem Zwang des Tanzes und wird in den pausenlosen hundert Minuten mehr zur treibenden Energie als beabsichtigt.
Monotonie vermeidet Mario Schröder mit einem ganz einfachen Strukturprinzip: Bei ihm gibt es nur in den kleineren Soloszenen Symmetrien von Figuren und Bewegungen. Größere Gruppen agieren immer in unterschiedlichen Personenstärken. Schnell löst sich am Beginn das Kollektiv in einzelne und im Bewegungstempo diversifizierte Parzellen auf. Das ist natürlich auch ein Akzent gegen die Partituren von Johann Sebastian Bach und Giovanni Battista Pergolesis „Stabat mater“, dessen Einleitungssatz gleich zweimal erklingt. Fast den ganzen Abend gleichen sich die schönen Bilder, gemessenen Hebungen und durch simultane Bewegungsfolgen gelockerten Arrangements. Anfangs bedeckt goldfarbener Stoff fahrbare Metallgerüste, die den riesigen Bühnenraum der Oper Leipzig rechteckig umgrenzen. In der Mitte hinten findet sich in den Gerüsten ein begehbarer Kreis. Dieser, Sonnensymbol oder kleines Weltrad, setzt sich nach Bachs „Amen“ an der Peripetie der tänzerischen Spannungsfelder tatsächlich in Bewegung. Dabei lösen sich Paul Zollers fahrbare Gerüste auf und werden später wieder zusammengeführt. Die Sphäre der Musiker im Orchestergraben mit den Chordamen auf Treppen Richtung Vorbühne bleiben vom Ballett isoliert. Die drei Musiker der indischen Formation „Indigo Masala“ agieren jedoch im Gerüst auf der Bühne, Leiter Ravi Srinivasan mischt sich in einigen Szenen sogar unter die Tänzer. Formstrenge contra Freiheit?
Bei genauerem Hinsehen bleibt noch immer undeutlich, warum man sich im Tanz entgrenzen oder befreien will. Eindeutig erlaubt die Choreographie den aus klassischen Tonfolgen und improvisierenden Kombinationen entstandenen indischen Klängen, auf die das Ballett Leipzig im Probenprozess improvisieren durfte, weitaus mehr tönende Vielfalt als bei den in eine veränderte Reihenfolge gebrachten Sätzen Bachs und Pergolesis. Die Farben der Kostüme wechseln zwischen fließendem Karmin, dem in Indien als festliche Farbe der Eliten geltenden Safran und grauen, uniformen Kontrasten. Diese Symbolik ist klar. Deshalb wirkt der große Bogen wie der Aufbruch von funktionalen Gruppenbildungen Richtung spirituelle Öffnung – und die halbe Strecke zurück. Figurationen der Gruppen scheinen in dieser Choreographie bedeutsamer als Emotionen einzelner. So entsteht der Eindruck einer starken Geschlossenheit des Aufbaus, aber auch des fast auf die Musik sich zerstörerisch auswirkenden Anspruchs eines formbildenden Gleichmaßes, das Bach und Pergolesi hier bedienen müssen.
Paradox ist diese musikalische Bach-Exegese also: Christoph Gedschold lässt sich am Pult sogar auf die extrem hohe und streng genommen der historisch informierten Aufführungspraxis widersprechenden Stimmung des Gewandhausorchesters ein. Natürlich folgt er als versierter Theaterdirigent den Tempo-Bedürfnissen des Balletts. So entsteht im „Magnificat“ vor allem, stellenweise auch im für heutige Ohren eher empfindsam erlebbaren „Stabat mater“ Pergolesis ein wie gepresster oder stark gedehnter Klang. Dieser findet nicht zu echter Virtuosität und erschwert den Gesangssolisten die bühnenaffine oder konzertante Emphase. Gerade weil die deshalb wie gedrosselt wirkenden „klassischen“ Klänge neben den frei schwingenden Tönen von „Indigo Masala“ stehen, wirkt der Abend wie der Selbstbefreiungsbesuch vom Überdruck westlicher Geisteslasten. Bei so viel musikalischer Höhensonne fällt neben dem Hauschor (einstudiert von Thomas Eitler-de Lint) der mitwirkende Kinderchor (einstudiert von Sophie Bauer) kaum auf. Thilo Reinhardts Libretto, das keinerlei individuelle Handlung enthält, gleicht dem akkuraten Versuch einer Mediation.
Also kommt die eigentliche Handlungsdynamik doch aus dem musikalischen Kontrast zu den hier vereinten Eliten des Leipziger Sakralgesangs. Steffi Lehmann, Susanne Krumbiegel, Marie Henriette Reinhold, Martin Petzold und Dirk Schmidt passen sich an, wagen manchmal sogar den Anspruch auf gesanglichen Ausdruck und haben jeder für sich eine Persönlichkeitsstärke, bei der die Tänzerinnen und Tänzer unter der Kuppel von Mario Schröders Bewegungsarchitektur in vielen Szenen kaum mithalten können. So wird aus Druck auf die musikalische Realisierung doch noch musikdramatischer Input.
Ein rauschender Erfolg mit Standing Ovations ist diese Gegenüberstellung von spirituellem Leuchten und der aus Paul Zollers Kostümen ableitbaren Trennung der Kasten. Vom eleganten Gleichmaß zur spirituellen Entäußerung zurück in die komplikationsfreie Wiedereingliederung der schönen Funktionsabläufe gibt es offenbar keinerlei Widerstände. So locker geht beim Ballett Leipzig die Transformation in ein Sein aus Gold und Safran. Wer möchte da nicht jubeln?