In Wuppertal versucht Rimini Protokoll den durch Zufall gestalteten Ebenen noch eine räumliche beizufügen, die aus dem Titel abgeleitet ist. Die Bühne wird nach hinten abgeschlossen durch eine Vertikalwand aus Projektionsflächen, von der herab wir Sängerinnen und Sänger aus neun europäischen Städten erleben, von St. Petersburg bis Athen, von Riga bis Istanbul. Gegeneinander geschnitten, versteht sich. Dazu sind Musiker in Logen und an den Parketträndern verteilt. Sonst geschieht nicht viel in dieser ersten Dreiviertelstunde. Die Sängerin Lucia Lucas kommt dreimal, würfelt Hintergründe für ein Miniatur-Theaterchen aus, das vorne rechts auf der Bühne steht. Diese werden dann groß projiziert. Einmal lagert sie sich auf der Bühne und sieht auf die Leinwände, wo teilweise schön gesungen wird. Man fühlt sich wie in einem experimentellen Dokumentarfilm, von dem man ahnt, dass er ein extrem wichtiges Anliegen vertritt, das man aber nicht zu fassen bekommt. Klar wird schon hier: Es geht um Europa. Der Operngesang wird, sogar recht enthusiastisch, als Teil einer, hoffentlich, im Entstehen begriffenen oder als solche endlich zu erkennenden gesamteuropäischen Kultur beschrieben. Aber ist das nicht ein wenig für 45 Minuten? Danach ereignet sich noch eine stumme Szene: Mit „Play“ kommen die Statisten zu Wort, die den ersten Teil nach der Pause mit ihren malerischen Kostümen und ihren hübsch locker inszenierten Umbauten prägen werden. Auf ein Schild, dass eine von Ihnen hochhält, werden Wünsche, Träume, Bekenntnisse projiziert, schön lakonisch und witzig. Es gäbe hier ja nur exakt 19 Euro pro Vorstellung, aber es sei richtig dabei zu sein, wo Geld für etwas Schönes ausgegeben werde, das kein Geld verdient: „Hier macht Altersarmut Sinn.“
Diese Linie ist die schönste des Abends. Von ihr ausgehend feiert die Aufführung im zweiten Teil die Institution Oper an sich. Indem sie zeigt, wie Oper entsteht. Da fasziniert ein plötzlicher Blick auf die Hinterbühne, oder darauf, wie die turmhohe Flügeltür zur rechten Seitenbühne sich öffnet und schließt. Minutenlang fahren die Lichttraversen nach unten und lassen die Scheinwerfer auf leerer Bühne Ballett tanzen. Und auch das Publikum wird einbezogen. Einzelne Zuschauer klatschen, husten, schwenken die Arme oder lesen ihr Programmheft mit der Handy-Taschenlampe. Sie folgen damit der unter ihrem Sitz versteckten schriftlichen Anweisung.
Das eigentliche Bühnengeschehen ist hier, abgesehen von den „Play“-Unterbrechungen, „Europeras“ as usual: Mal schöne, mal witzige Kostüme, ulkige Props, amüsante Choreographien. Vor allem aber dominiert hier, wie von Cage entworfen, die sinnliche Kraft des klassischen Gesanges. Auch wenn die Rollengestaltung hier nicht hilft oder gefordert ist und wenn das Orchester hier kein Klangbett liefert, sondern eher ein gegenläufiges Rauschen vor dem musikalischen Fenster.
Trotz der stückimmanenten Unordnung ist übrigens zu hören, dass Johannes Pell den Abend musikalisch locker und souverän disponiert und dass seine Musiker gerne tun, was sie tun. Und extrem präzise. Und gesungen wird teilweise mitreißend. Da gestaltet Mark Bowman-Hester angenehm unexaltiert, aber wunderbar klangsinnlich und textverständlich, Loge und den „Wozzeck“-Doktor, Liudmila Slepneva badet förmlich in der hochdramatischen, italienischen Opernliteratur und Jasmin Etezadzadeh setzt dem Abend mit dem Waltraute-Monolog aus der „Götterdämmerung“ in jeder Hinsicht ein Glanzlicht auf. Ihr Spiel mit einem Haufen Golfschlägern ist extrem witzig, aber nicht ansatzweise klamaukig, führt ins Herz ihrer Gesangslinie und macht diese so hörbar.
Dazu gibt es ein wenig politische Haltung. Auf dem Übertitelbrett und dem einen oder anderen Requisit gibt es Janusköpfiges zu Europa zu lesen. Die Sehnsucht, dass es zusammenwächst und so Nationalismus und nationale Abgrenzungen obsolet macht, trifft auf Wut und Pessimismus über aktuelle europapolitische Prozesse. Ergebnis: Man droht mit Rückzug ins Privatleben. Diese Ebene, inhaltlich gut gemeint, durchaus auch relevant, hat in den „Europeras 1 & 2“ deutlich keinen Ort. Denn John Cage verhandelt hier nichts Politisches, ausschließlich Kulturelles. Und hat also vielleicht aus heutiger Sicht eine Utopie geschaffen.