Märchenhaft auch als Wertungskategorie ist die Ausstattung von Andreas Becker, dem wie der Nordhauser Operndirektorin Anette Leistenschneider die eindeutige zeitliche Fixierung schnuppe ist. Das wird zum kleinen Dekorationswunder: Der beträchtliche Aufwand an Textilien bleibt trotz der in einem kleinen Theater gefährlich desillusionierenden Nähe von Zuschauern und Bühne absolut geschmackssicher. Hier folgt man dem neuen Trend, (progressive) Frauen- und (vormoderne) Männerfiguren in Kostüme unterschiedlicher Epochen zu verpacken.
Auch drückt man sich nicht vor der langen Ballettmusik beim Ball des Prinzen Charmant. Diesen zerren die Höflinge vom Kinderroller und wuchten ihn auf den Thron, auf dem er die anrückende Damen-Parade mit Desinteresse erduldet. Unter den Anwärtern auf seine Hand ist sogar der böse Ritter Blaubart: Rüschen, Perücken und den glatzköpfigen König (Philipp Franke) mit verrutschtem Krönchen gestaltete Andreas Becker als liebevolle Kopien der Illustrationen Gustave Dorés zu den Märchen von Charles Perrault.
Doch der Feenzauber hat ein nüchternes Ende. Denn dieser war weiter nichts als eine Promotion-Farce der Firma „Fairy (Tale) Shoes“. Cendrillon haust im Seitendepot „Zweite Wahl“ und wird nur durch den gläsernen Glücksbringer-Schuh konkurrenzfähig. Jetzt versteht man die Bildebenen zwischen märchenhaftem Retro-Barock, Charles Dickens und der in der Charleston-Zeit angesiedelten Stiefmutter Madame de la Haltière mit Cendrillons plump posierenden Stiefschwestern Dorothée (Carolin Schumann) und Noemi (Jolana Slavikova).
Bei der rothaarigen Fee, deren Topp-Koloraturen durch ihre Rollschuhe keine Sekunde gefährdet sind, weiß man nicht so recht, ob sie aus Walt Disneys Prinzessinnen-Industrie oder dem Barbie-Imperium kommt. Das Outfit dieser Fee ist mehr als perfekt. Vor ihrem Business-Charme ergreifen Cendrillon und der Prinz Chamant am Schluss die Flucht. Amelie Petrichs souveräne Glitzertöne finden nach einem leichten Energiesturz auch dann nicht aus einer gewissen Kühle heraus, wenn sich das Liebespaar unter ihrem Zauberstab vor nachtblauem Sternenhimmel zum ersten Mal küsst.
Berückend nah sind sich nach dem ironisch gemeinten und deshalb sehr pompösen Beginn Szene und Orchestergraben. Das ist an der genauen Übersetzung von Jost Miehlbradt verifizierbar, auch an den differenzierten Wirkungen der leicht verfremdeten Bühnenmusik zum „Concert discret, calme et mysterieux“ des zweiten Aktes.
Der Lieferservice „Fairy Shoes“ kommt immer weiter herunter, später hängen verstaubte Spinnweben im Raum. Der Chor wird zum Hofstaat und Feen-Gefolge in Brautkleidern und Libellenaugen. Davide Lorenzato hat seiner kleinen Truppe im Gesamtklang und für die vielen Soli den perfekten Feinschliff verpasst. Ähnliche Aufmerksamkeit widmen Regie und Dirigat den zu Höchstleistungen angespornten Solisten.
Die Uhr steht vom Aufbruch Cendrillons zum Ball bis zu ihrer überstürzten Flucht immer auf bedrohlichen 23:35. Es bleibt in der Schwebe, was in den ersten Begegnungen zwischen Prinz Charmant und dem Aschenbrödel Lucette Traum oder Realität ist. Anette Leistenschneider entwickelt mit exakt dem Libretto folgender Poesie, wie sich das Paar mit Händen und Bewegungen, sehr spät mit Blicken findet. Und sie lässt offen, ob es sich bei der Handlung um den Traum einer Angestellten von „Fairy Shoe“ oder um ein echtes Märchen handelt. Zinzi Frohwein schwebt über Massenets Melodien und macht fast alle Schwierigkeiten vergessen, die der Part mit extremen Lagenwechseln für Soprane und Mezzi beinhaltet. Passend dazu besetzt ist Kyounghan Seo als Prinz, dessen Melancholie doch eher ein schwer überwindbares Peter-Pan-Syndrom ist. Bis zum Schluss bleibt diese Beziehung von fast irrealer Kindlichkeit. Thomas Kohl verbirgt erfolgreich, dass er sich in anderen Rollenfächern wohler fühlt als in den Kantilenen von Cendrillons Vater Pandolphe.
Zum einzigen Crash zwischen Werk und Wiedergabe kommt es in den Szenen der über weite Szenen den Abend beherrschenden Madame de la Haltière. Da lässt Anette Leistenschneider ihrem Spieltrieb vielleicht zu sehr freien Lauf. Denn diese hochadelige Dame, ein weibliches Pendant zum Ochs auf Lerchenau im „Rosenkavalier“, ist keineswegs eine krachlederne Charge. Dabei hätte Anja Daniela Wagner genau den feinen Humor Caïns und muss hier ihren klaren Mezzosopran vergröbern. Deutlich merkt man an diesem schrägen Kontrast zu den poetischen Szenen die Bedenken, dass Massenets Erlesenheit ermüden könne. Doch man unterschätzt das ihm eigene Potenzial: Denn die hingebungsvolle Aufmerksamkeit des Publikums galt vor allem den feinen Momenten und leisen Tönen, zu denen Gustave Doré und die bemerkenswerten Mitwirkenden des Tanzstudios Radeva mit ihrer Choreografin Louiza Radeva ins Spiel kamen. Selbst wenn das Theater Nordhausen und das Loh-Orchester Sondershausen diese Feuer- und Wasserprobe nur mit Illusionsmanövern einer guten Fee bestanden haben sollten, ist das nur recht. Trotz dreier großer und deshalb für Massenet-Enthusiasten schemerzlicher Striche ist diese Produktion ein magisches Vergnügen.