Foto: Die Uraufführung von Wajdi Mouawads "Vögel" in der Regie des neuen Intendanten Burkhard C. Kosminski © Matthias Horn
Text:Detlev Baur, am 16. November 2018
Die neue Intendanz am Schauspiel Stuttgart beginnt mit einer Familiengeschichte, die es in sich hat. Wajdi Mouawad verknüpft in „Vögel“ – wie schon in seinem Erfolgsstück „Verbrennungen“ – die Aufarbeitung komplexer Familienverhältnisse mit dem Nahost-Konflikt, und zugleich mit den Sehnsüchten und Ängsten in den Westen emigrierter Familienmitglieder. Der Beginn von Kosminskis Auftaktinszenierung ist aber auch ausgesprochen höflich – und polyglott: „Excuse me.“ Der junge Naturwissenschaftler Eitan verliebt sich in einer New Yorker Bibliothek in die Doktorandin Wahida. In Mouawads geschickt gebautem Werk, das Erzählkunst und filmische Szenenüberblendung zu einem stringenten Erzähltheater verbindet, überbrückt das Liebespaar wie im Flug zwei Jahre.
Bei einer zentralen Familienszene am Esstisch versammelt der Berliner Eitan mit jüdischen Wurzeln dann seine Eltern und den Großvater zur Vorstellung der Freundin. Doch Wahida kommt gar nicht zu Tisch, sie muss im Treppenhaus die Auseinandersetzung zwischen Vater David und Eitan mitanhören. David entwirft als gebürtiger Israeli ein ob der Vergangenheit und aktuellen Bedrohung der Heimat verständliches, aber auch brutales, alle anderen ausschließenden Gesellschafts- und Familienbild. Eitan setzt seine bedingungslose Liebe zur arabischstämmigen Wahida dagegen. Mutter Norah, deren Eltern ihr Judentum gegen den Glauben an den Kommunismus eingetauscht hatten, will ihm ersparen gegen den Willen der Eltern zu heiraten und stellt sich so familiendialektisch gegen ihn. Schon wenig später liegt Eitan in Israel im Krankenhaus, nachdem er bei einem Bombenattentat verletzt wurde. Nun spürt Wahida seine Großmutter auf, sie hatte David und seinen Vater vor langer Zeit weggeschickt. Und langsam schält sich heraus, dass der kompromisslose Israeli David eigentlich ein palästinensischer Bauernjunge ist, der von Großvater Etgar in einem eroberten Dorf gefunden wurde – und wohl aus Erschöpfung adoptiert wurde. Was für ein Drama, in dem sich Familie und Weltpolitik verbinden! Nach diesem Schock stirbt David an einem Schlaganfall, nicht ohne im Koma den Grenzgänger Al-Hasan Al-Wazan aus dem 15. Jahrhundert zu sprechen, über den Wahida forscht.
Mouawad lässt die Figuren selbst immer wieder auf den Konflikt von „Romeo und Julia“ anspielen, das Stück (mit dem nicht unbedingt treffenden Titel „Vögel“) ist aber auch eine Variation auf „Nathan der Weise“, wo Familien- und Feindschaftsverhältnisse im Nahen Osten gleichzeitig enthüllt werden. Mit einer Mischung aus südländischer Emotionalität, Hollywood-Rezepten, well-made Dramen- und Dialogkunst und souveräner Unparteilichkeit schafft Mouawad ein Stück, das ein paar Striche vertragen könnte, aber gewiss seinen Weg über die Bühnen machen wird. Zwischen Utopie und Verzweiflung angesichts der verfahrenen Situation im Nahen Osten spielt der inzwischen in Frankreich lebende gebürtige Libanese eine globale Familiengeschichte souverän durch.
Die deutschsprachige Erstaufführung wird in Stuttgart fürs Publikum nicht einfacher dadurch, dass nur zum kleinen Teil deutsch gesprochen wird und englische, aber auch (größere) hebräische und (kleinere) arabische Teile übertitelt werden. Die Projektionsfläche dafür sind große weiße Papierwände, die, teils nach oben gezogen, die weite Drehbühne ansonsten in Zeit- und Spielräume strukturieren (Bühne: Florian Etti). In seiner Bühnenpräsenz und differenzierten Charakterdarstellung ist Itay Tiran als anfangs abwehrender und schließlich zerrissener David herausragend in einem noch etwas unebenen Ensemble; der Israeli ist ebenso neu im Ensemble wie Martin Bruchmann als Eitan, Amina Merai als Wahida und Silke Bodenbender als Norah. Die Großeltern werden von den Gästen Dov Glickman und Evgenia Dodina gespielt. Dodina gelingt es bemerkenswert eine schräge, kratzbürstige und liebenswerte Frau zu spielen.
Insgesamt übersetzen Kosminiski und das Ensemble die Geschichte überzeugend auf die Bühne; mit einer Familienaufstellung, die immer in Bewegung bleibt. Vater-Sohn-Konflikte, Geborgenheit und Enge von Familie, Ursprünge und Perspektiven in weltpolitischen Konflikten verbinden sich zu einem kleinen Welttheater. Der große, andauernde Jubel nach der Premiere zeigt, dass das Stuttgarter Publikum sich nach einem Theater gesehnt hat, das es ernst nimmt und ernsthaft die Fragen des Menschseins auf die Bühne bringt, quasi Geborgenheit durch offene Auseinandersetzung mit der Welt vermittelt.