Einzelne Stimmen beginnen nun die Präambel des Grundgesetzes zu skandieren. Kraftvoll synchron ist die Rezitation der das Grundgesetz tragenden Bundesländer; der Passus „das gesamte deutsche Volk“ hingegen wird programmatisch vielstimmig. Das deutsche „Wir“, so Górnickas zentrale These, ist eben keine homogene Masse, sondern eine heterogene Vielheit. Erhebend idealistisch klingt der Gesetzestext, der in Auszügen vorgetragen wird, mal unisono, mal in Wechselrede, frontal ans Publikum gerichtet oder in Bewegung. Engagiert dirigiert Marta Górnicka, während neben ihr eine strahlende Shermin Langhoff mitspricht und -wippt, am Schluss in der „Patriotic Disco“ gar mit abtanzt. Verfassungspatriotismus ist sexy!
Auf der Bühne branden aber erst einmal die Grundrechte auf: Unantastbare Würde, Religions- und Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung, Mutterschutz – recht identitätsfixiert vorgetragen etwa von einer Frau, die zwei Kinder umarmt hält, dann bestärkt von einem jungen Mann. Beifall spendet die Zuschauermenge, laut Veranstaltern mehrere Tausend Menschen, als Artikel 16a (1) vorgetragen wird: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Keine Selbstverständlichkeit mehr, denkt man. Martialisch wirkt der Chor, wenn er vom Verwirken der Grundrechte bei ihrem Missbrauch kündet und an die Verfassungswidrigkeit von Parteien erinnert, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen trachten. Regelrecht eingehämmert wird uns Zuschauerinnen und Zuschauern das Widerstandsrecht, jener Artikel 20 (4), der die Wirren der Weimarer Republik und eine neue (Nazi-)Diktatur verhindern soll.
Ein starkes Stück, dieser Gesetzestext, und zugleich fragil – ja, die von Marta Górnicka machtvoll in Szene gesetzten Protagonistinnen und Protagonisten wecken das Verlangen, dieses Wertewerk zu verteidigen gegen seine Gegner. Eingeschworen aufs „Wir“ der Verfassungstreuen aber lauert ein leiser Verdacht: haben „Wir“ hier wieder nur zu „uns“ gesprochen? Überwindet ein Projekt wie das „Grundgesetz“ gesellschaftliche Gräben oder vertieft es sie, weil es assoziativ Feindbilder heraufbeschwört? Oder geht es genau darum: Wer die Verfassung einzuschränken sucht, hat seine Grundrechte verwirkt und gehört eben nicht mehr zum deutschen „Wir“? Gibt es sie also noch, die deutsche Einheit? Diese Fragen nimmt man mit vom Festgelände, sie transzendieren Bier und Bratwurst.