Text:Regine Müller, am 30. März 2018
Eine Filmoper der Gruppe K.A.U. Wdowik am Staatstheater Darmstadt: „Fiasko“
Der Tod des individuell schöpferischen Autors wird bekanntlich schon lange prophezeit. In der Literatur, im Theater, in der Popkultur und in der Bildenden Kunst wird das Ableben des originären Künstler-Genie-Individuums seit langer Zeit postuliert, gefeiert – und immer wieder auch entschieden dementiert. In der Oper aber ist immer noch von Experiment die Rede, wenn Formen zur Anwendung kommen, die nicht nur beherzt Materialien mixen oder re-mixen, sondern auch, wenn Genres gekreuzt werden und Kollektive am Werk sind. So tut sich schon der gute alte Besetzungszettel schwer, auf neue Formen zu reagieren, denn gefordert sind ja immer noch gefälligst Angaben zu Komponist, Libretto, Regie, Leitung und Gesangspersonal.
Dafür ist auf dem Besetzungszettel zur Uraufführung von „Fiasko“ am Staatstheater Darmstadt – im Untertitel „Eine Film-Oper“ genannt – dann auch entsprechend viel Platz reserviert. Einzig die musikalische Leitung ist klar zuzuordnen, denn Johannes Harneit gebietet live über das in Wagner-Stärke besetzte Staatsorchester Darmstadt und den Opernchor des Hauses und muss das Geschehen mit dem Film koordinieren, der parallel zum Bühnengeschehen abläuft und der eigentliche dramaturgische Kern des Abends ist. Gesamtkonzeption, Regie und noch einiges mehr dagegen liegen in den Händen der Gruppe K.A.U.& Wdowik, namentlich: Philipp Bergmann, Thea Reifler, Matthias Schönijahn und Malgorzata Wdowik.
Worum geht es? Die Film-Spur von „Fiasko“ erzählt mit teils märchenhaft und in metaphorisch überhöhten Bildern von der Reise einer Opernsängerin (Magdalena Kolesnik), die ihre Stimme verloren hat, durch verlassene Gegenden Europas von Deutschland durch Polen bis nach Kaliningrad und von ihrer Begegnung mit Stimmen entlegener Volkstraditionen, die möglicherweise sehr bald dem Untergang durch Vergessen geweiht sind. Als da beispielsweise wären: Jagdhornbläser aus dem Harz; Bäuerinnen aus Polen, die beim Herstellen von Gänsedaunen einstimmige Summgesänge intonieren; oder polnische Dudelsackpfeifer und Bläser, deren imposante Instrumente an Alphörner erinnern. Es geht also einerseits um die Institution Oper, personifiziert durch die stumme Sängerin, aber auch um die Polyphonie bedrohter Stimmen Europas – so die Grundthese der Dramaturgie.
Dabei setzt der Abend einen deutlichen Schwerpunkt auf ausführlichen Zitaten aus dem Kernbestand der klassischen Operntradition, auf schlicht, aber sehr ergreifend implantierte Filetstücke der Tradition. Zu Beginn fährt leise sirrend der eiserne Vorhang hoch und der Abend hebt an mit Wagners „Lohengrin“-Vorspiel, das seine betörende Sogkraft ganz ungebremst, ungekürzt, unironisch und auch nicht „überschrieben“ entfalten darf. Erst in den letzten Takten legt sich die erste Originalkomposition des Abends „Forest I“ von Wojtek Blecharz, zunächst fast unmerklich mit glockenspielartigen Klängen über Wagners verklingende Flageolett-Töne. Mit assoziationsreichen Bildern unterfüttert der Film, ergänzt um wenige Bühnenaktionen Wagners ohnehin assoziationsreiche Partitur. Ähnliches geschieht später mit Verdi (Vorspiel von „La traviata“, und „Addio del passato“, „Patria oppressa“ aus „Macbeth“) und, stark verfremdet zur Geräuschmusik, aber dennoch erkennbar, mit Mozarts Arie der Königin der Nacht.
Die stumme Sängerin geistert unterdessen weiter durch verlassene Gegenden Europas, beobachtet polnische Trachtengruppen, die in ehemaligen Munitionsfabriken ihre Kreis-Tänze absolvieren, streift durch einsame Landschaften, Wälder und Wüsteneien des industriellen Tagesbaus. In bewusstem Verzicht auf die Stimme des Individuums in Gestalt von Solisten spielt auf der karg, nur mit ein paar Gesteinswülsten bestückten Bühne der Chor die Hauptrolle, während im Film alles um die stumme blonde Sängerin und ihre nicht nur stimmliche Traumatisierung kreist. Neben Wojteks Blecharzs kurzen Originalkompositionen erklingen Teile aus „CHE für großes Orchester“ von Hans-Joachim Hespos, das dieser freigegeben hat zu beliebiger Verwendung, immer wieder mehr oder weniger bearbeitete Reminiszenzen an die große Oper und eben die Traditionsmusiken europäischer Klanglandschaften aus der Filmspur.
Das alles ist mit viel Geschmack und musikalischem Gespür gemacht, die Film-Oper entwickelt viel Atmosphäre, und trotz gelegentlicher Nähe zum Folklore-Kitsch stellt sich eine nicht bloß eindimensionale Melancholie ein. Die eigentliche Stoßrichtung des Abends bleibt jedoch unklar, bis auf die Trauer über verblassende Traditionen, die im Kern ja regressiv und sentimental ist. Und es bleibt ein formaler Vorbehalt: Warum müssen ausgerechnet die Ikonen des Repertoires bemüht werden, die ihre Kraft einmal mehr lässig unter Beweis stellen und sozusagen die Arbeit machen an diesem Abend? Was bliebe übrig ohne die intakten Wagner- und Verdi-Teile und die riesigen Assoziationsräume, die durch ihr Zitieren sogleich aufscheinen?