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Im Strudel der Zeitspirale

Bernd Alois Zimmermann: Die Soldaten

Theater:Staatstheater Nürnberg, Premiere:17.03.2018Autor(in) der Vorlage:Jakob Michael Reinhold LenzRegie:Peter KonwitschnyMusikalische Leitung:Marcus Bosch

Peter Konwitschny inszeniert am Staatstheater Nürnberg Bernd Alois Zimmermanns Musiktheater-Monolithen „Die Soldaten“

Im vierten Akt finden wir Zuschauer uns im muffigen Halbdunkel der Bühne wieder – also hinter dem geschlossenen Vorhang! Umzingelt von drei Schlagzeuggruppen mit jeweils mindestens sechs Pauken und von einer Menge an Lautsprechern drängeln wir uns umeinander wie in einem schwarzen Aquarium, blicken nach oben in den Bühnenturm, wo es bereits merkwürdig knarzt. Wir dürfen uns frei bewegen. Aber wohin? Am Rande werden Klappstühle aufgestellt für die, die sitzen müssen… Die Idee des „runden Klangtheaters“ greift der alte Regie-Revoluzzer Peter Konwitschny hier in klaustrophobisch gesteigerter Form auf. In einer freien Weiterdeutung der Idee einer „Kugelgestalt der Zeit“, wie Bernd Alois Zimmermann sie in diesem bahnbrechenden Bühnenwerk Ende der 1950er, Anfang der 1960er erdacht und in Partitur gebracht hat. Die Zuhörer werden also in Nürnberg dem Zimmermann’schen Klangstrudel unmittelbar ausgesetzt, herausgerissen aus der Sicherheit plüschiger Theatersessel.

Bernd Alois Zimmermanns Musiktheater „Die Soldaten“ ist bis auf den heutigen Tag ein visionärer Monolith im Opernspielplan geblieben. Und für jedes Opernhaus eine enorme Herausforderung. Die klangliche Umsetzung erfordert vier Pauker und insgesamt 21 Schlagzeuger, die, zum Teil auf Probebühnen spielend, live zugeschaltet werden müssen. Allein das große Orchester füllt den Graben bereits vollständig aus. Eine Orgel spielt im Nebenraum, dazu ein großes Ensemble auf der Bühne mit Solopartien, die eigentlich (laut Michael Gielen) alle eine Quart zu hoch sind und den Sängern mit ihren Zwölftonkoloraturen inklusive bizarrer Intervallsprünge das Äußerste abverlangen… Obendrein verlangt Zimmermann komplizierteste Simultanszenen, die Vergangenheit und Zukunft in eine surreale Gegenwart zwingen – eine ungeheure Anforderung für jede Regie! Trotz dieser aufführungspraktischen Zumutungen hat sich in den letzten Jahrzehnten aber eine Aufführungstradition etabliert, die zuletzt 2010 in Amsterdam, 2013 in Zürich/Berlin, 2014 an der Bayerischen Staatsoper oder auch 2016 am Staatstheater Wiesbaden fortgeführt wurde. Als erste Aufführung des 21. Jahrhunderts brachte David Pountney das Werk bei der Ruhrtriennale 2006 in der Bochumer Jahrhunderthalle heraus.

In Nürnberg gleiten scherenschnittartige Bühnenbilder von oben herunter – eines nach dem anderen. Grüne, rote, gelbe oder goldene Wände mit Fenster- oder Türausschnitten deuten Räume an. Grün ist die Farbe von Maries Zimmer, jener Bürgerstochter, die sich lebenshungrig und in der Hoffnung auf sozialen Aufstieg von einem Baron verführen lässt, danach von ihm fallen gelassen wird und als Bettlerin endet. Papp-Bäume dekorieren eine Fußballwiese, wo sich die Offiziers-Herren mit dem Ball amüsieren und hochtrabende Philosophien über das „herrliche“ Menschsein loslassen, garniert mit abfälligen Bemerkungen über Frauen. Zwischen Tischen mit Laptops gleiten die Herren in Glanzanzügen, wie sie Banker wohl tragen, in eine Lotterparty ab und reißen alkoholisiert Löcher in die Papierwände. Die Bühnenbilder hat Helmut Brade geliefert, Konwitschnys langjähriger Bühnenbildner bereits zu DDR-Zeiten. Fußballtor, Sessel oder Bett werden hereingetragen oder -geschoben. An die Unterbrechungen des Umbaus auf offener Bühne muss man sich gewöhnen.

Das dichterische Wort der von Jakob Michael Reinhold Lenz 1776 veröffentlichten Theaterkomödie gleichen Titels hat Zimmermann unverändert ins Libretto übernommen, er hat nur die Szenenfolge gleichsam kondensiert. Konwitschny allerdings nimmt in Nürnberg eine entscheidende Umdeutung vor. Sie betrifft die Begegnung des Barons Desportes mit Marie. Zimmermann sieht hier drei Simultanszenen vor, bei deren einer sich Marie am Ende dem Baron hingibt. Parallel dazu wird Marie in einer Szene mit ihrem Verlobten Stolzius und seiner Mutter als Soldatenhure beschimpft, das wiederum wird in dritter Ebene überlagert von einer Soloszene der Mutter. Konwitschny dagegen stopft die Beteiligten der drei Szenen kurzerhand in ein Bett, wo Stolzius, nun unmittelbarer Zeuge von Maries Fehltritt, alle umbringt, zuletzt Marie. „Sie ist es nicht mehr, sie ist dieselbe nicht mehr!“, ruft er aus. „Ich glaube, du phantasierst schon!“, entgegnet die Mutter… In der Tat: Alles Folgende ist also ein Traum.

Der Beginn des 4. Aktes  – Kulminationspunkt dieser Oper, wo Zimmermann sogar in drei eingespielten Filmen nebst Lautsprechern alle bisherigen Schauplätze gleichzeitig vergegenwärtigt wissen wollte mit allen Darstellern auf der Bühne, Tätern und Opfer zugleich – mündet dann in die eingangs beschriebene Bühnensituation. Das Opernensemble steht oben auf den Umgängen im Bühnenturm und liest die Texte vom Blatt, einzeln und im Chor: ein starker Verfremdungseffekt mit einem etwas didaktischen Beigeschmack. Die vorgesehene Tragik dieses Moments des menschlichen Scheiterns wird so konterkariert. Aber die Szenen danach gewinnen wieder an Intensität. Stolzius rächt seine Marie durch Vergiftung des Desportes bei einem Tête-à-tête-Dinner mit Hauptmann Mary im Balkon des Zuschauerraums. Dann kommt Marie doch noch einmal und bettelt das Publikum an, trifft auf ihren Vater, der sie nicht erkennt und von sich stößt. Währenddessen singt ein Priester das Vaterunser aus dem leeren Theaterraum, Militärtrommeln donnern los, kommen über Lautsprecher von hinten und rollen bis über den Orchestergraben hinweg. Die Musiker dort halten sich die Ohren zu. Dann flimmern auf den Bildschirmen der Übertitel, zur Bühne gedreht, EKG-Frequenzen, werden zur Linie: Exitus!

Die unter den Zuschauern auf der Bühne, die zum Orchestergraben hin stehen, konnten der Staatsphilharmonie Nürnberg quasi bei der Arbeit zuschauen, und auch dem GMD Marcus Bosch vor der enorm dicken Partitur, der diesen ganzen Apparat samt Zuspielungen aus dem Off mit einer Seelenruhe koordiniert – eine unglaubliche Leistung! Bernd Alois Zimmermans Musik bleibt ein großes Ereignis. Das ganze Werk hat Zimmermann seriell durchdacht, nicht nur in Bezug auf Tempo und Rhythmusschichten oder Tonhöhen, sondern auch die Formanlage. Und dennoch ist er ein unorthodoxer Pluralist geblieben. Er webt einen Bachchoral ein oder zitiert das „Dies irae“ und Jazzelemente. Das Sängerensemble ist in Nürnberg zu einer hervorragenden Ensembleleistung zusammengewachsen, unterstützt von einer, das darf man bei Konwitschny bewundern, intensiven Personenregie. Beispielhaft erwähnt sei das großartige Damenterzett mit Susanne Elmark, die in der Rolle Maries bereits mehrfach geglänzt hat, mit Solgerd Islav als Schwester Maries und Sharon Kempton als Gräfin de la Roche. Oder Antonio Young als Feldpriester. Besonders beeindruckend blieb Uwe Stickert als überragender Desportes in Erinnerung, der dieser mörderisch hohen, buchstäblich exaltierten Tenorpartie sogar einiges an Schönheit abgewinnen konnte.

Insgesamt also eine überzeugende Leistung der Staatsphilharmonie Nürnberg und des Opernhauses, wenn auch die Regie am Beginn des 4. Aktes für Irritationen sorgte. Das Publikum zeigte sich begeistert von dieser ersten Neuinterpretation im Jubiläumsjahr zum 100. Geburtstag des Komponisten. In Köln und Madrid wird es weitere Aufführungen geben – man darf gespannt sein!