Die Eröffnungs-Szene am Strand von Kreta ist als Mischung aus Kita-Sandkasten und Baywatch-Warenlager angelegt. Man sieht vor der Weite des Sternenhimmels winzige Stühlchen und Luftballon-Herzchen, wundert sich über eine Kalvarienberg-Miniatur mit ewigem Licht vorn an der Rampe, kann sich später zur Strandparty an der Explosion einer kolossalen Tintenfisch-Attrappe erfreuen und ordnet bei wachsendem Vergnügen die Gedanken über diese Raumordnung für Traum und Trauma. Wenn die großen Helden auf kleinen Stühlchen kauern müssen, die Lächerlichkeit also zum System erhoben ist, wird die neuerdings im politischen Kampfbegriff gewässerte Verzwergung zum Mirakel. Video-Künstler Falko Herold, mit Partner Patrick Bannwart auch spendabel mit Einfällen umgehender Kostüm- und Bühnenbildner einer ins Reich der Funktionskleidung versetzten Allzeit-Antike, ist mit seinen lichtspielerisch schattenwerfenden Randbemerkungs-Skizzen immer dabei. Auf eine klare Linie lässt er sich nicht festlegen, da wird süffisanter Spott abgelöst von Geisterbahn-Ehrenrunden und manchmal übertreibt es der Cartoonist, wenn er doppeldeckend das schon in Musik und Text „tosende Meer, das in ihm tobt“ auch noch in Zickzack-Linien auf der Projektionswand fixiert.
Die Regie jongliert souverän mit allen erdenklichen Mitteln und löst wie beiläufig die gefürchtete Opera-seria-Bremse auf der Antiken-Spur, indem sie bei aller überbordend eingesetzten Fantasie lapidar eine zeitnahe Geschichte von komplexen Verwirrungen aus Schicksalsschlägen und Liebesleiden erzählt. Nicht ohne bildungsbewusste Hintergrundbeleuchtung, wenn die Waffengänge zwischen Pistole und Schwert wechseln und der Schatten von Orest aus dem anderen Drama der Elettra das Beil für die Spontan-Bearbeitung der Pulsadern reicht. So weiß der besorgte Besucher jedenfalls schnell, dass die Religionsgründer, die bei der berühmt gewordenen Berliner „Idomeneo“-Attacke von Hans Neuenfels für Selbstbestimmung ohne Propheten-Veto im Quartett aus dem Leben weichen mussten, den Kopf oben behalten. Am Ende, wenn die Stimme des Orakels den Machtwechsel als überirdischen Kompromiss zwischen Meeres-Gott und Erden-Welt angeordnet hat, greift der abgedankte Idomeneo zum Suizid-Drink aus der Hausbar – und seinen happyendlich verheirateten Sohn Idamante, den Thronfolger, schiebt die Regie direkt aus dem vermeintlichen, im Libretto angeordneten Glück gleich hinterher per Zusammenbruch ab ins Jenseits. Da hilft kein Comic, da bleibt nur Blackout. Ach, Gott!
David Bösch hat seine in Basel entstandene und in Antwerpen weiterentwickelte Konzeption, in der auch in Nürnberg die Chöre (Leitung: Tarmo Vaask) als wuchtige Metaphern-Kollektive eindrucksvoll eine echte Gegenpart-Hauptrolle spielen, von zwei Vertrauten einstudieren lassen (er selber hatte 24 Stunden zuvor Premiere mit „Glasmenagerie“ am Wiener Akademietheater) und war damit so zufrieden, dass er zur Premieren-Verbeugung anreiste. Tatsächlich blieb das Sänger-Ensemble den anspruchsvollen szenischen Herausforderungen nichts schuldig. In der Titelrolle schuf der junge Ilker Arcayürek, auch wenn seine angestrengt wirkende Stimme die Partie gelegentlich mit Puccini-Schluchzern zu erobern versucht, eine imponierende Charakterstudie. Ida Aldrian (in der Hosenrolle des Idamante) und Ina Yoshikawa (die Braut Ilia) gehen lockerer mit Mozart um. Die um Hochdramatik ringende Leah Gordon stellt die Furien-Dramatik der Elettra im ironisch umflorten Zicken-Alarm auf der Kippe zwischen heroischer und parodierter Vitalität her, setzt jedoch mit der wild ausfahrenden Hass-Arie stilsicher ihren Höhepunkt. Ein homogenes Mozart-Ensemble wird nicht draus, aber die Summe der Einzelleistungen kann sich sowieso sehen, überwiegend auch hören lassen.
Noch mehr als die mit allen Wassern waschende Regie, die in ihrem Wirbel aus rahmenden und rammenden Effekten (wenn sich zur Trauermusik ein Feld von riesigen Kruzifixen vollautomatisch aufrichtet, ist die Grenze zum Kitsch allerdings erreicht) das Werk jedenfalls vom ewigen Verdacht der edlen Langeweile befreit, schafft Dirigent Marcus Bosch wunderbar flippigen Hochspannungs-Mozart. Es bebt und knallt im Orchestergraben der Staatsphilharmonie, die ganze Spannweite an unheimlicher Dramatik und heimlicher Komödiantik wird in ständiger Alarmbereitschaft ausgelotet. Nicht der flächige Teppich-Schönklang, sondern ruppige Theatermusik mit Stolperfallen ist geboten, dem hellwachen Harnoncourt-Mozart viel näher als den samtigen Plattenschrank-Erinnerungen an Karl Böhm. Bosch bezieht die Sänger in dieses ständig auch innerhalb der Nummern für Reflex-Wendungen offene System ein, und wenn bei musikalischen Komplikationen eine gewisse Sogkraft zur Rampe die spielerische Entspannung der Inszenierung zwischendurch kurz pausieren lässt, bleibt das dennoch großartig.
Mehr als 50 Jahre ist Mozarts „Idomeneo“ in Nürnberg nicht gespielt worden. Marcus Bosch und David Bösch demonstrieren dem Publikum (und übrigens auch mehreren Intendanzen), wie viel versäumt wurde. Der Beifall war einhellig.