James Joyce bietet mit dem komplexen Tagesbericht aus dem Dublin des Jahres 1904 keine illustrativen Schilderungen der Stadt. Vielmehr beschreibt er ja gerade die subjektiven Gedanken der Hauptfigur, des Anti-Helden Leopold Bloom. Assoziationen, Erinnerungen und Gesprächsfetzen charakterisieren das nicht eben leicht konsumierbare Werk. Hartmann und das Ensemble verzichten fast ganz auf den Versuch einer Nacherzählung dieser handlungsarmen Geschichte; und nur an einer Stelle taucht das Dublin von Joyce auf, wenn nämlich Edgar Eckert als wuseliger Dichter seine Bühnengenossen als Gebäude oder Brücke der Stadt einsetzt. (Linda Pöppel gibt sich hier als „River“ zu erkennen.) Doch auch dieses Spiel ist brüchig: Diese „Dubliner“ verschwinden immer wieder zur Seite, wie insgesamt das Prinzip der Wiederholung ein Kompositionsprinzip der so komplexen wie klar komponierten Inszenierung ist.
Als Leitmotiv von Hartmanns „Ulysses“ sind der Tod und das Verhältnis zwischen Eltern und Kind allgegenwärtig; damit haben der Regisseur und Dramaturg Claus Caesar Themen aus der Textvorlage konzentriert. Die paradoxe Menschwerdung Christi ist somit nicht nur im Schlammkreuz auf der Bühne ein zentraler Punkt, sondern verbindet sich etwa auch mit den Diskussionen über Hamlet mit seinem Vater und Geist. Diese Szene ist ein großer Sprach- und Denkgenuss, den Bernd Moss alias Bloom mit Judith Hofmann, Birgit Unterweger und Cordelia Wege auch wunderbar ausspielen. Gruppenszenen sind jedoch dabei eher die Ausnahme. Prägend für die Inszenierung sind die Soloszenen; die Menschenscheu oder Überdrüssigkeit Blooms anderen Menschen gegenüber wird zum Spielprinzip. Schließlich entsteht im Zusammenspiel aus großartigem Ensemble, grandioser Bühne samt Lichtportal und Musikeinspielungen (von Barock bis wummerndem Lounge-Sound) ein existenzielles Spiel, das bei aller Allgemeinheit und Geschichtenlosigkeit nicht beliebig wirkt. Vielmehr gelingt es den stream of consciousness aufs Theater zu übersetzen. „Dublin brennt“ sind Linda Pöppels Eröffnungsworte, die gebratenen Nieren von Bloom sind angebrannt und die Leuchtstoffröhren bilden einen brenzligen Rahmen. Letztlich sind die Themen dieses assoziativen Welttheaters nicht so anders als bei Tschechow, Shakespeare oder Beckett.
Und doch kann einen im zweiten Teil dieses großartig gespielten und komponierten Abends das Gefühl beschleichen, das solch ein grundsätzliches und wenig an Figuren oder Alltagsgeschichten gebundenes Theater – immerhin behandelt der Roman ja gerade einen ziemlich durchschnittlichen Tag eines ganz normalen Bürgers – in esoterische Untiefen entgleiten könnte. Gerade in Verbindung mit der (köstlichen) populär-wissenschaftlichen Einlage über Teilchenverbindungen in der Quantenphysik wirken diese einsam-gemeinsamen Sterblichen auch als Jünger einer seltsamen Party. Als Frage ans Publikum – und für den wachen Kontakt sind Moss und Matthes die Garanten – ist dieser „Ulysses“ aber ein großer Theatergenuss.