Auf die Fassade einer alten kubanischen Zigarrenfabrik schauen wir. Wieso Kuba? Weil sich Victor Hugo anno 1870 engagiert einsetzte für die Unabhängigkeitsbestrebungen etwa in Mexiko und ebenda, auf Kuba; Hugos große Rede zur Befreiung der Welten erklingt am Ende des ersten Teils wie von einer zerkratzen alten Schellackplatte. Castorf will, dass wir „Les Misérables“ weiter denken: von Paris bis Havanna. Und natürlich hat er mit Heiner Müllers immer wieder zitiertem Klassiker „Der Auftrag“ auch die Klammer oder den Schlüssel zur Hand, der die Französische Revolution kurz vor Hugo vernetzt mit den Revolutionen der Karibik; und mit Fidel Castro, der als Plakat in einer der Spielebenen auf der Denic-Bühne klebt. Gemüseladen und Büro, Hinterhof und Abstellkammer, Treppenhaus und Matratzengruft – alles ist möglich in diesem von Licht und Schatten durchfluteten Haus, und die Video-Kameras erreichen, grell ausgeleuchtet oder im Schummerlicht, den entlegensten Winkel.
Dabei ist Hugos Fabel um den freigelassenen Sträfling Valjean, der es zwar auf rätselhafte Weise bis zum Dorf-Bürgermeister bringt, aber eingeholt wird von der eigenen Biographie, für Castorf nur der Ausgangspunkt, um von Aufruhr und Aufstand über zwei Jahrhunderte hin zu erzählen – selbstverständlich mit praktischer Nutzanwendung für die Gegenwart. Dafür nutzt er jede erdenkliche Zitat-Zutat, etwa einen tatsächlich sehr grandiosen Mono- und Dialog über das unzerstörbare Böse im Menschen, das unaufhaltsam in die Selbstvernichtung treibt; der hoch konzentrierte Oliver Kraushaar und die hinreißende Thelma Buabeng sprechen diese Kostbarkeit weit nach Mitternacht.
Und das mutig gemischte Ensemble folgt Castorf und zeigt uns mögliche Wege durch dieses Labyrinth – allen voran Jürgen Holtz, der greise Doyen der Berliner Theaterszene. Er spricht auch Hugos große Schellack-Rede zur Pause. Bald nach Beginn wird er brillant und berührend zum Inbild christlicher Nächstenliebe, als der Sträfling in die Freiheit gelangt; immer nur den „Bruder“ sieht der alte Bischof im Gegenüber, das er bewirtet. Der Glaubensmann ermöglicht dem Ex-Sträfling gar, ganz viel Tafelsilber zu klauen als Startkapital für den neuen Weg. Wahnsinnig kitschige und wahnsinnig schöne Szenen entstehen da mit Holtz und Andreas Döhler, der vom DT ans BE wechselte und jetzt die erste monströse Herausforderung bewältigt mit Castorf. Den Regisseur übrigens und den alten Holtz, diese Ikone des DDR-Theaters von ganz früher, im Schlussapplaus um halb zwei in Hochachtung vor- und miteinander zu sehen – das ist echtes Glück.
Natürlich wird auch wie wild chargiert, bei Castorf sowieso und wie immer, aber erst recht im Text-Gebirge von „Les Misérables“. Auch „Drei traurige Tiger“, der 1958 entstandene Havana-Roman des kubanischen Autors Guillermo Cabrera Infante wird ja noch eingebaut, zum Beispiel in den völlig rätselhaften und ziemlich unzugänglichen ersten eineinhalb Stunden. Langsam nur gewöhnen wir uns an die Spiel-Profile von Valery Tscheplanowa und Sina Martens, Aljoscha Stadelmann und Patrick Güldenberg, Rocco Mylord und Abdoul Kader Traoré, der mit Thelma Buabeng die „schwarzen“ Stimmen beisteuert im Marathon. Stephanie Reinsperger ist später knallhart präsent mit den mörderischen Müller-Texten, Wolfgang Michael kommt spät als innerlich (und äußerlich) zutiefst zerklüfteter Kommissar ins Spiel. Über sie alle entwickelt sich (wie so oft) ein monströser Castorf-Kosmos, der sich nicht immer schert ums Material, aber immer um die Wirkung.
Erschöpft hängen alle in den Seilen, am Schiffbauerdamm nachts um halb zwei. Wer sich treiben lassen mochte durch dieses Multiversum von Theatergeschichten, wird’s genossen haben. Und nimmt, vielleicht, das eigene Bild vom möglichen Aufstand mit in die Nacht…