Zu sehen sind zaghaft sich in Bewegungs-Strudeln vorwärts tastende Gruppen und Paare, die sich kaleidoskopisch in Momentaufnahmen zu Gedächtnis-Protokollen fügen. Wild umtanzt ein junger Mann die fast statuarisch am Boden verwurzelte, staunende Frau. Paare treten aus den Türen, finden und schütteln sich im Bewegungs-Staccato, straucheln und turnen am Boden. Dann klappt sich das Haus viertürig auf. Jetzt sind die Wände hell ausgeleuchtet, zu Elvis Presleys „Love me tender“ zeigen sich Liebespaare, man versucht sich zu küssen und zärtlich zu berühren, zieht und zerrt aneinander, steckt die Köpfe zusammen, agiert gemeinsam in Reihen und Kreisen. Bald sind die immer wieder neu ansetzenden Akteure weiß eingekleidet. Zuweilen bleibt die Zeit stehen, löst sich in Zeitlupen-Tänzen auf. Schließlich setzt zu Johnny Mathis Song „Wonderful“ mit zunehmendem Tempo ein heiter verspielter Ensembletanz ein, schenkelklopfend sich rasant in eine ausgelassene Revue hineinsteigernd. Die meisten zeitgenössischen Choreographien, die in der Sprache des Tanzes der Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen nachspüren, münden in katastrophale Abgründe. Mit Sansanos Tanzstudie erleben die Zuschauer in einem Crescendo der Stimmungsaufhellungen die umgekehrte Entwicklung, die von nächtlicher Melancholie zu einer strahlenden Fröhlichkeit hinführt.
Auch „Acqua“, das zweite Stück des Tanzabends, eine Uraufführung, präsentiert sich kreativ originell. Der Ulmer Ballett-Direktor Roberto Scafati entführt die Zuschauer zur Percussions- und Playback-Musik von Jürgen Grözinger, dessen umfangreiches Schlagwerk im Bühnenhintergrund vom Komponisten selbst bedient wird, mit seinem Ensemble in die Welt der Wassertropfen. Anfangs gleicht der Bühnenboden einem heiß dampfenden Quell-Tümpel oder Sauna-Wasserbecken, in das von mehreren tief hängenden, hintereinander gestaffelten Theater-Zwischenvorhängen in seidig silbergrau glänzende Hemdchen eingerollte Tänzer herab tröpfeln – ein wunderschönes Tanz-tableau. Zu mehr oder weniger lautstarken, zuweilen auch sanften Percussions-Rhythmen, die wie eine Wasserpumpe zur Bewegung antreiben, wirbeln später die tanzenden Tropfen.
In einem neuen Bild, das sich anscheinend zu einer buddhistischen Tempel-Zeremonie ausweitet, tauchen die Tänzer aus dem Urgrund (des Orchestergrabens) mit gläsernen Wasserschalen empor, in denen brennende Lichtkerzen schwimmen. Karyatiden gleich tragen die Protagonisten ihre Schalen feierlich über dem Kopf zur heiligen Handlung. Oder führen kniend zu dröhnenden Schlägen der Gongs plätschernd liturgische Handwaschungen aus. Dann folgen zu hämmernden Buschtrommeln irrwitzig bizarre Höhepunkte wild sprudelnder Tanzfreude und als Kontrapunkt ein mit hängenden Schultern gebeugtes, zerfließendes, ermüdet schreitendes Abtauchen der Tanzgruppen.
Eine choreographische Meisterleistung ist Scafati im lustigen Schlussbild gelungen. Zu strömendem (echten) Schnürles-Regen vom Bühnenhimmel herab klitscht ein zunächst sich in Pas de deux-Bilderbuchposen ergehendes Tanzpaar gleitend am gewässerten Boden, spritzt und patscht liegend bis auf die Haut durchnässt: die orgiastische Vermählung mit dem Element, aus dem alles Leben kommt. Ein spannend unterhaltsamer, sehenswerter Ballett-Abend in Ulm.