Foto: Wildes Bühnentreiben mit Benny Claessens, Anne Müller, Frank Willens und Matti Krause © Arno Declair
Text:Detlev Baur, am 29. Oktober 2017
Ein Bilderrausch, nämlich große Bilder in Versatzstücken eines weißen Hauses und teilweise irrsinnig rasch wechselnde Videos sowie Fotos und Screenshots an der Rückwand dieses Raumes auf der weiten Bühne des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, auch wilde Tanzeinlagen von Frank Willens einerseits (Bühne: Katrin Hofmann, Video: Michel Auder und Meika Dresenkamp) und zahlreiche unterschiedliche Stimmen andererseits.
Die Uraufführung von Elfriede Jelineks neuem Drama „Am Königsweg“ wird durch die Schauspiellegende Ilse Ritter eröffnet. Immer wieder wird sie mit zarter und doch klarer, melodischer Stimme für die blinde Seherin und Schriftstellerin sprechen, schließlich das Ende der Sprache verkünden: „Jetzt gehen uns auch noch die Worte aus.“ Nach dem sanften Beginn vor dem mit einer Tapete geblümten Eisernen Vorhang schlagen an einem Tisch innerhalb des weiten weißen Raumes (samt Balkonen, Raubtierattrappen und Säulen) Matti Krause, Anne Müller, Tilman Strauß, Julia Wieninger und Frank Willens ganz andere Töne an, indem sie in Mikrofone chorisch vom neuen König berichten; an der Rampe aufgebaut wird dann der Text zur Rap-Vorlage vor stark ryhthmischer elektronischer Musik (Matthias Grübel). Auch musikalisch bietet die dreieinhalbstündige Inszenierung zahlreiche ganz unterschiedliche Töne: Benny Claessens führt den König in einer pompösen Muscial-Arie ein; später zetert er im Bettlerkönigsgewand (Kostüme: Andy Besuch) vom Balkon der Intendantenloge „Where have all the good men gone“; auch andere besingen auf englisch die aus den Angeln geratene globale Krisenwelt. Benny Claessens, der durch sein energetisches und dabei entspanntes Spiel in einem starken Ensemble herausragt, weicht in Improvisationsszenen vom Skript ab, stellt das Spiel und sein Publikum insgesamt in Frage, sucht zwischendurch im Klischee-Kindertheaterton vergeblich (dann wieder am Stücktext) die Wahrheit auf der Bühne. Eine andere Tonlage kommt auch durch die ebenfalls den Jelinek-Text auslassenden und dabei die bildungsbürgerliche Theatersituation in Frage stellenden Einlagen der Schauspielerin und Kabarettistin Idil Baydar ins Spiel. Die „Kanakin“ im golden schimmernden Trainingsanzug stellt auf ihre direkte, konfrontierende Art Jelineks Frage: „Was ist eigentlich los mit Euch?“
Laute, schrille und leise, intensive Szenen hat Regisseur Falk Richter kunstvoll miteinander verwoben, wilde Explosionen des frustrierten, weil wertlos gewordenen jungen weißen Arbeiters (Matti Krause) von den ruhigen, aber keineswegs beruhigenden Worten von Ilse Ritters Dichterin abrupt ablösen lassen. Direkt zuvor schwiegen noch in einer königlich bestuhlten Talkshow-Runde die frustrierten Sprecher und Sprecherinnen: „Wir haben ausgeredet.“ Mit Anne Müller, Julia Wieninger und Ilse Ritter spielen und sprechen drei unterschiedlich alte Darstellerinnen die Alter Egas der Autorin: Müller nervös-dringlich, Wieninger klar und umso trauriger; nur die überdeutliche Zuordnung der Dichterin am Ende ihre Weges zur älteren Diva Ritter, erscheint bei aller Souveränität ihres Spiels als eine etwas plumpe Zuordnung. Insgesamt aber findet diese Uraufführung beeindruckende und stimmige Töne und Bilder für das Stück der Nobelpreisträgerin, das ziemlich sicher die Saison (und die im Frühjahr anstehenden Festivals von Heidelberg über Mülheim bis Berlin) bestimmen dürfte.
„Am Königsweg“ ist der Monolog einer heiter verzagten Autorin, die sich als blinde Seherin sieht, und die klar erkennt, dass die Welt am Abgrund ist. Ihr Abgesang konzentriert sich über das eigene Schreiben auf ihre persönliche Perspektive; dabei ist der Text aber gerade nicht selbstverliebt oder egozentrisch. Vielmehr beschreibt die Hauptfigur der Autorin ihre eigene Hilflosigkeit im Bezug auf das bestimmende Phänomen der Gegenwart, den (niemals namentlich genannten) aktuellen Präsidenten der USA. Er scheint in ihrem panoptischen Monolog als blinder, verblendeter, verstümmelter König in der Tradition des König Ödipus auf. Wieder verbindet Elfriede Jelinek in ihrem neuen Stück antike Motive und gegenwärtige Tragik. Jenseits der billigen, kabarettistischen Entzauberung des tumben Trump bespricht sie ihn als Auswuchs einer verblendeten Gesellschaft, deren Teil sie selbst ist. Diese zugleich subjektive Begrenzung wie globale Erweiterung des Teufels Trump macht die besondere Größe dieses Werks aus.
Die Hamburger Uraufführung wird diesem verbindlichen Riesenmonolog auf bemerkenswerte Weise gerecht. Sie überfordert das Publikum durch sehr wechselhafte Szenen und teils unerträglich viele Bildprojektionen und streicht unter Hinzufügung neuer Szenen und Songs notwendigerweise lange Passagen des Originaltextes. Wenn Idil Baydar an ihrem Handy „Siri“ aktiviert, berichtet eine elektronisch abgeflachte Stimme von Abrahams Mordstheater mit dem eigenen Sohn. Hier zeigt sich, dass Jelineks Sprache gerade in großer Einfachheit eine soghafte Bühnenwirkung entwickeln kann. Auch bescheidenere (der bereits jetzt für diese Saison sechs weiteren geplanten) Inszenierungen können also nach dieser brillanten Uraufführung mit dem Text noch ihre Bühnenwirkung entfalten.