Denn wenn schon die Vorlage recht filmisch arbeitet, dann deutet jenes Filmische die Bühneneinrichtung von McClaim zumindest auch an, hier und da ist’s sogar ein bisschen retro, etwa mit einer kleinen „West Side Story“-Reminiszenz: zwei Gangs, ein Tanz. Kostüme (von Thomas Kaiser) und Bühne (von Frank Olle) verweisen eher dezent auf die Szenerie: Tokio, zwischen gut bürgerlich und kleinkriminell, schrille Werbung, Nachtleben, Bartristesse, von innen und außen beleuchtbare Hochhauswände. Es geht ja schließlich um eine einzelne Nacht und in ihr um die gegenläufigen Erlebnisse der Schwestern Mari und Eri Asai, die ein gemeinsames Trauma verbindet, aber ein gegenteiliges Schicksal trennt: Die eine kann nicht schlafen, die andere nicht aufwachen. Die eine durchpflügt eine Nacht in Bars, die andere kämpft im Schlaf verzweifelt mit Nachmahren.
Wo sich diese verschiedenen Wirklichkeitsebenen der beiden Schwestern berühren, wird die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit brüchig. An beiden hängen Geschichten, die sich umschlingen; eine Prostituierte wird von ihrem Freier Shirakawa verprügelt und beraubt, Mari verliebt sich in den Posaunisten Tetsuya Takahashi, Eri erhält Besuch von einem gesichtslosen Eindringling. Verschlingungen, die im Tanz einen besonders stimmigen Ausdruck bekommen: Wie da die Liebe Mari und Tetsuya allmählich inniger heimsucht, zeigen Chih-Lin Chan und Takashi Yamamoto feinnervig in harmoniesuchenden Pas de Deux. Dann wieder begegnen sich Posaunist und Freier als einander Unbekannte auf der Straße, in den selben Rhythmus und die selben Bewegungen verfallend.
Szene für Szene wird mit je einem Musikstück „vom Tonband“, wie es ebenfalls hübsch retro heißt, untermalt, kurze Blacks mit Umbauten trennen die Szenen erkennbar voneinander. Die haben unterschiedliche emotionale Anmutungen. Zum Beispiel sinnlich-erotisch: Eine Gang um einen Zuhälter (charismatisch: Jaume Costa i Guerrero) demonstriert männliche Dominanz, in die Kaoru, die Managerin eines Love-Hotels (prägnant präzise: Lauren Limmer) furchtlos einbricht. Oder bestürzend, wenn Eri Asai (Mireia Martinez Pineda) taumelnd und torkelnd endlich wach werden will. Oder schlicht rührend, wie die wache Schwester die schlafende kost.
Dieses Mosaik aus 21 Bildern ergibt zusammen einen zweistündigen Ballettabend, der in Bann hält, weil hier keine expressiven Weiten gesucht werden, sondern weil, ganz konventionell, die Tiefen und Untiefen der erzählten Geschichte im Vordergrund stehen. Keine Geschichten aus tausend, sondern aus einer Nacht, mit einer alles bestimmenden Erzählhaltung, die in Coburg Körperhaltung und Körperspannung bekommt. Und dem Publikum ein wunderbar romantisches Tanzpaar gönnt: Chih-Lin Chan und Takashi Yamamoto.