Und du fragst dich, Mann aus Mitteleuropa, wenn das alles so ist, und es wirkt ja absolut glaubhaft, warum laufen fünf oder sechs dieser Frauen hier mit rituell bedeckten Köpfen durch den Theatersaal? Warum fliehen sie einerseits vor diesen furchtbaren Lebensbedingungen und geben sich trotzdem einer Religion anheim, die sie unter die Knute des Mannes zwingt? Und fragst dich im nächsten Moment, ob du überhaupt das Recht hast, so eine Frage zu stellen – sozial und ökonomisch gepolstert, ungefährdet, wie du bist – und nimmst dir vor, dich endlich mal mit dem Koran zu beschäftigen, der seit mindestens drei Jahren auf deinem Schreibtisch liegt. Und machst es vielleicht trotzdem nicht. Es sind diese Perspektivwechsel, von denen die nie schwerfällige Aufführung lebt – und für die sie Raum schafft. Man hört, wie gut einige dieser Frauen die deutsche Sprache beherrschen, wie andere sich abplagen, noch andere englisch sprechen, eine nicht einmal das. Und dann sprechen sie kurze, in der Regel von Magdalene Artelt übersetzte Texte in ihrer eigenen Sprachen, die du teilweise nicht einmal erkennst. Und du stellst dir vor, wie es sein könnte, in so ein fremdes Land mit einer derart anderen Sprache zu kommen, und wieviel Kraft und Willen es braucht, diese möglichst schnell zu erlernen.
Man lernt 14 Leben ein wenig kennen an diesem Abend. „Da werden aus Flüchtlingen Menschen!“, sagt eine ältere Dame hinter mir. Deshalb sind Projekte wie dieses so wichtig. Hinter den kalten Zahlen erscheinen Schicksale – Leben, Sinn und Not. Man kann sich ihnen nicht entziehen. In Moers werden wir Zuschauer mit Tee begrüßt, zwischendurch gibt es kleine Bulgurbällchen, süßes und pikantes Gepäck. Die Atmosphäre ist warmherzig, du fühlst dich zu Gast geladen, sogar ein wenig verwöhnt von der Freundlichkeit, der Schönheit, der Musik und dem Tanz um dich herum. „Ja, wir sind hier sicher“, sagt eine der Frauen zum Schluss des Abends und lächelt ein wenig. „Aber sind wir auch willkommen?“