In Peter Wittenbergs Nürnberger Inszenierung zündet Johanna an dieser Stelle eine Fluppe an und schlendert entspannt qualmend ins aufgeblendete Schweinwerferlicht – Heldentum kann tödlich sein. Oder ist es einfach die Zigarette danach? Da hatten sich die Zuschauer längst an die Gotteskriegerin als Abbild von Lara Croft alias Angelina Jolie, der anderen Einzelgängerin im Kampf um Irgendwas, gewöhnt. Mit Springerstiefeln und alsbald sehr blutigem Unterhemd tritt Lilly Gropper auf die Bühne, auf dem Kopf ein weit nach vorne gebogenes Hilfsgerüst, das sie momentan wie das letzte Einhorn der Theater-Romantik aussehen lässt, aber als Grundausstattung nun mal unerlässlich ist. Eine Mini-Kamera, von der Stirn herab direkt auf Augenhöhe gerichtet, überträgt den ganzen Abend auf breiter Videowand das nervöse Blinzeln der Titelheldin, ihre angstvoll oder verwundert flackernden Pupillen als Einladung zum Blick ins Innere. Ja, das ganze Leben ist ein Selfie. Dass die Technik für solchen Aufwand wie ein Sprenggürtel um die heilige Hüfte geschnallt ist, verweist in einem Drama mit religiös abgesicherter Gewalt geradezu zwangsläufig auf naheliegende Assoziationen, die von der Inszenierung gar nicht gewollt sind. Sie achtet eher auf diskrete Psychoanalyse, auf seelische Befindlichkeiten als Kern des hin und her wogenden Tumults.
Die Bühne von Florian Parbs ist eine besenreine Allzweck-Schachtel, nach hinten mit leichtem Anstieg auf den Video-Blickfang zulaufend, und vor allem geeignet, die Figuren so riesige Schatten werfen zu lassen, dass diese Dimensionen jeder Realität spotten. Es sind aus der Zeit in die Gegenwart gefallene Leutchen, die sich da in ihr Refugium spreizen. Auf höherer Ebene tragen sie Maßanzug royalblau, der Bastard von Orleans hat eher Dobrindt als Stilberater. Die schräge Königinmutter schleift ihren Persianer als Trophäe durchs Design-Gelände. Und Johannas Shirt, anfangs so blütenweiß wie das Gewissen und die flatternde Fahne (hoffen wir mal: in dieser Rangfolge), wird immer blutbefleckter. Ihre Unsicherheit unter dem überwölbenden Pathos, ihr Zweifeln hinter der autosuggestiven Glaubensgewissheit ist aber tatsächlich eher in der Optiker-Studie als in der Text-Eroberung erkennbar. Peter Wittenberg, ein erfahrener und offenbar im Umgang mit Schiller aus Erfahrung auch ein wenig furchtsamer Regisseur, verschlankt die wuchtige Dichter-Poesie in zweistündiger Spieldauer zu einer Folge leidlich flotter Wendungen, die sich Missbrauch und Missverständnis immer rechtzeitig entziehen. Weder dröhnender Patriotismus noch verklärte Heilslehre wird gepredigt, was viel Distanz ergibt und zwangsläufig an der Frage entlang schrammt, ob die beliebige Verfügbarkeit von religiöser Anmaßung nicht doch das spezifische Thema ist, das man in dieser Aufführung gern diskutiert sähe. Es blitzt einmal kurz auf, wenn die fanatisch fromme Johanna (Lilly Gropper im Marschtritt durchs Sendungsbewusstsein, im Augenaufschlag auf Gegenkurs) und der chronisch gemütskalte Erzbischof (Jochen Kuhl zum Schaudern eisig als mobile Inquisition mit beschränkter Haftung) an beiden Enden der Deutungshoheit über himmlische Gewissheiten zerren. „Stell uns die Jungfrau an des Heeres Spitze“, fordert ein Graf, aber da sind wir bekanntlich schon weiter.
Wer sonst immer gerne darauf hinweist, dass „heutige“ Schauspieler nicht sprechen können, wird sich schwer tun mit dieser Aufführung. Sie bewältigen die hohen Worte allesamt tadellos, sprechen ihre moralisch gestützten Formeln mit pointierter Dringlichkeit. Interessanter wird es freilich, sobald die tönende Kunst-Folie beherzt durchstoßen wird, wenn etwa Thomas Nunner den König als Wackeldiplomaten mit Spickzettel spielt, Josephine Köhler seine Geliebte im Damenprogramm zur wandelnden Vermittlungsinstitution macht und Elke Wollmann die Alt-Regentin in eine Zicke mit Wolfspelz verwandelt. Dass 11 Darsteller durch 23 Rollen wechseln, beschert surreale Irritationen, die aber nichts schaden bei einer auf Logik zu allerletzt achtenden Geschichte, die in der Kurzfassung noch etwas ruckartiger ihre Richtungen wechselt.
Was der Regie von Peter Wittenberg fehlt, ist die mutige Verknotung von wenigstens einigen der herumbaumelnden Fäden. Wer zwei Stunden lang der Johanna in die Augen blickt und darin mehr Selbstzweifel zu sehen glaubt als die Dialoge bis zum allenfalls metaphorisch gebrochenen Zölibats-Gelübde zulassen, würde gern etwas darüber erfahren. Damit kann oder will die Inszenierung nicht dienen, sie kommt zu keinem Befund und verkrümelt sich im letzten Lungenzug. Johanna kehrt nicht wieder, sie sucht nun andernorts das Heil – oder einen Aschenbecher.