„South Pole“ versetzt das Publikum an das südliche Ende der Welt: in die Antarktis. Besessen vom Rausch des imperialistischen Expeditionswahns des frühen 20. Jahrhunderts, begeben sich Ende des Jahres 1911 zwei Erkundungstrupps, einer aus Großbritannien, der andere aus Norwegen, zum geografischen Südpol, wo (mutmaßlich) noch nie ein Mensch zuvor war. Ihr Ziel liegt fernab alles Menschlichen. Unsere Karten enden meist vorher. Nicht einmal Google Maps traut sich dorthin. Wo das Licht so grell und die Kälte so beißend sind, dass der Mensch dort unweigerlich an seine körperlichen und physischen Grenzen stößt. Dort herrscht unangefochten die Naturgewalt.
Trotzdem wollen zwei Männer unbedingt die Flagge ihres jeweiligen Königs an diesen Ort pflanzen. So sei es. Als Robert Falcon Scott, den Kapitän der britischen Expedition, per Morsetelegramm die Nachricht erreicht, dass der norwegische Kapitän Roald Amundsen und sein Team ihm die Aussicht auf die grenzenlose Glorie streitig machen wollen, entfacht ein Wettlauf, an dessen Ende die Düsternis siegt.
Srnka komponierte ein opernübergreifendes Duett zwischen den beiden Gruppen, „a double opera in two parts“ nennt er sein Werk. Die Briten und die Norweger begegnen sich nie im eigentlichen Sinne, laufen von verschiedenen Punkten los, stets versetzt in Raum und Zeit. Auf der Bühne singen fünf Tenöre für die britische Gruppe, angeführt von Michael Pegher als stetig zweifelnder Scott, neben fünf Baritonen für die Norweger, bei denen David Pichlmaier als Amundsen furchtlos und herrschaftlich-grausam die Spitze bildet.
Sie existieren mal parallel, mal verwoben, mal konterkarierend im gemeinsamen musikalischen Universum. Dazwischen funken immer wieder zwei Sopranistinnen. Aki Hashimoto, die Geliebte Amundsens, durchschneidet förmlich Srnkas wabernde Musikmasse mit ihrer scharfen Stimme, die sie wie spitze Eiszapfen ins Publikum schmettert. Das beunruhigt, aber auf eine sehr angenehme Art und Weise. Katrin Gerstenberger gelingt eine samtige Darbietung von Scotts besorgter Ehefrau, die ihre Töne beinahe mutterhaft um den flehenden Tenor seines Mannes umlegt.
Und das Orchester – es hat wiederum sein eigenes musikalisches Leben, behauptet sich zuweilen als heimliche dritte Komponente im Dialog der zwei Bühnenteams. Mal tritt die Musik in den Hintergrund, mal verstummt sie ganz, mal wirft sie einen einsamen Bläserton zur Bühne hoch. Doch jedes Mal baumt sie sich wieder auf, explodiert in ihrer wie ein schmetternder Schneesturm wütenden Vielfältigkeit oder baut eine Klangwand auf, die wie undurchsichtiger Nebel eine absolute Orientierungslosigkeit schafft. Die musikalische Achterbahnfahrt lässt die zwei Stunden rasend schnell vergehen. Lässt man sich darauf ein, wird man mit einer unvergesslichen Intensität belohnt. Diese hat man nicht zuletzt Johannes Harneit zu verdanken, der Srnkas herausfordernde Partitur mit sicherer Hand in die Realität überführt.
Intendant Karsten Wiegand erschuf in Co-Regie mit Dirk Schmeding eine stark visualisierte Polarwelt, die zu großen Teilen auf die Videoarbeit von Roman Kuskowski setzt. Letzterer baute Wände von Eisbergen, virtuelle Kamerazooms vom Weltall auf die Erdkugel und künstliche Blutlachen von geschlachteten Ponys und Huskys. Bärbl Hohmann ergänzt die zweidimensionale Bilderwelt mit einem perfekt inszenierten Schneesturm, bei dem nur noch die Füße der Entdecker in Skiern zu sehen sind. Die Bilder sind eindrucksvoll, ja, doch zuweilen verliert die so beliebt gewordene durchsichtige Leinwand an szenischer Wirkkraft, was einem übermäßigen Einsatz einerseits und manchmal unglücklich leuchtenden Scheinwerfern andererseits geschuldet ist.
Nichtsdestotrotz tat Darmstadt gut daran, sich Srnkas Oper über den Wahnsinn der Menschen anzunehmen. Denn Srnka und sein aus Tasmanien stammender Librettist Tom Holloway schrieben ihre Oper nicht mit universalistischem Anspruch, sondern mit der akribischen Intensität jener Leute, die wirklich etwas verstehen wollen. Deshalb verführt „South Pole“ zu einer kompletten Versenkung sowohl in die psychischen Welten der Polarforscher als auch in die extremen Bedingungen dieses Un-Orts, den die Menschen Südpol nennen.