Deshalb ist so eine Doppel-„Ausgrabung“ natürlich auch ein Akt posthumer Wiedergutmachung, allerdings von etwas, das biographisch nie wieder gutzumachen sein wird. Schon deshalb geht die eingangs gestellte Frage letztlich an die Werke selbst – und kann nur ambivalent beantwortet werden. Korngolds „Polykrates“ ist dramaturgisch ein Machwerk, was vor allem am Libretto liegt, das Leo Feld und Vater Julius Korngold dem aufstrebenden Filius aus Versatzstücken einer noch nicht einmal zweitklassigen Komödie zusammenstoppelten. Es geht um Ehekomplikationen in einem Musikerhaushalt, ausgelöst dadurch, dass ein vom Pech verfolgter Jugendfreund namens Peter Vogel ins Heim des trauten Paares schneit. Dieser Pechvogel hat leider zu viel Schiller gelesen und redet dem Hausherren ein, er solle seinem Glück misstrauen und sein Teuerstes, nämlich seine Ehe, ebenso aufs Spiel setzen wie einst der Balladenheld Polykrates den fatalen Ring. Die daraus entstehenden Wirrungen sind derart blöd und misogyn, dass sie nicht mal als Groteske durchgehen. Weinberg dagegen lehnt sich an eine durchaus gewitzte Komödie des jiddisch publizierenden Autors Scholem Alejchem an, die 1975 aber auch schon etwas verschmockt war. Hier bricht im jüdisch-bürgerlichen Milieu des zaristischen Russlands die Revolution aus – allerdings nur im Dienstboten-Souterrain und dort nicht nur befeuert von Karl Marx, sondern auch vom Genossen Wodka dem Starken. Und so genügt, wen wundert’s, die hochdramatisch aus dem Off hereingellende Sopranstimme der „Madame“, um das Treiben halbwegs im Zaum zu halten.
Natürlich haben beide Werke auch ihre Stärken. Was Korngold da im zarten Alter von 16 Jahren an Musik zusammenbrachte, ist in seiner ganzen pubertär überbordenden Opulenz durchaus hörenswert. Und Weinbergs extrem hybrider Stilmix aus Jazz, Operettengalopp, Klezmer und allerspätest-romantischem Schwelgen ist als Eklektizismus derart kühn, dass es fast schon wieder modern ist. Auf der Bühne funktioniert das aber nur, wenn die Inszenierung einen wirklich intelligenten Zugriff auf die Werke findet, der hier im Idealfall sogar noch deren Zusammenfassung zu einem Doppelabend legitimieren sollte. Und, bei einigen Einwänden in Einzelheiten, muss man der Regisseurin Yona Kim das Kompliment machen, dass ihre Inszenierung diesem Idealfall ziemlich nahekommt. Das liegt vor allem daran, dass sie sich einerseits, inspiriert von Alejchems Schtetl-Komik, mit viel Geschick und in kluger Dosierung des hier ja naheliegenden Mittels der grotesken Überzeichnung bedient, so dass man eine Menge Spaß hat an diesem langen Doppelabend. Entscheidend aber ist, dass sie diese Ebene der Groteske nachhaltig konterkariert durch eine beide Werke übergreifende Meta-Erzählung, bei der einem das Lachen durchaus vergehen kann. Das ist ein kühner Wurf, auch wenn er einige Handlungsmotive ziemlich forsch verbiegt. Aber da entsteht angesichts der beschriebenen Textqualitäten kein allzu großer Schaden.
Die Ebene der Groteske ist schnell erzählt. Am Anfang stehen „Mazl Tov“ und die Küchenrevolution, es folgt der von Schiller inspirierte Ehe-Kleinkrieg. Margit Flagner hat Yona Kim ein wunderbar vielschichtiges Bühnenbild gebaut, ein schwarz-weißer, wie in Kohle gezeichneter Längsschnitt durch ein Wohnhaus mit dem Souterrain auf der Vorbühne und der Belletage erhöht und dahinter. Deren Fenster gehen auf mehrere Videoscreens, die neben milieutypischen Szenerien auch kommentierende Bildzitate zeigen. Anfangs, bei „Mazl Tov“, steht ein trauriger Fiddler – nein, nicht „on the Roof“, aber immerhin auf einer nach hinten in die Höhe gehenden Treppe. Und wenn er Tevje hieße, würde man sich zunächst nicht wundern, denn die schrägen „Mazl tov“-Helden – der Buchhändler Reb Alter, die ihm spröde zugetane Köchen Bejlja, das Dienstmädchen Fradl und ihr liebster Chaim – treiben es mit Marx und dem Alkohol ziemlich lustig. Spätestens aber, wenn der Reb sein jiddisches Volkslied von seinen nacheinander verstorbenen neun Brüdern vorträgt, ein Pendant zu den „Zehn kleinen Negerlein“, wenn dann der Fiddler mit blutigem Gesicht wieder erscheint und sich auch die anderen Akteure (bis auf „Madame“, die hier leibhaftig auftritt) schwarze Konzertfracks überwerfen und Violinkästen hervorholen – spätestens dann wird klar, dass die Inszenierung in diesen „Brüdern“ die von den Nazis verfolgten und ermordeten Künstler spiegelt. Und damit auch die Schicksale der beiden Komponisten dieser so unterschiedlichen Werke.
Das ist ziemlich raffiniert und wird im „Polykrates“-Teil noch viel raffinierter. Hier verwandelt sich das russische Palais in eine Filmstar-Villa in Hollywood, Margrit Flagners Kostüme überzeichnen virtuos den Filmglamour der 30-er und 40-er Jahre. Der „Kapellmeister“ Wilhelm ist zum Filmkomponisten mit zwei Oscars auf dem Gartentisch geworden und könnte auch Erich Wolfgang heißen (Korngold war in der Tat zweifacher Oscar-Preisträger), seine Gattin Laura gibt sich durch entsprechende Plakate als der Filmstar „Laura Simmes“ zu erkennen, was ein hübscher Gag ist, denn die Sängerin der Partie ist die in Heidelberg sehr beliebte Sopranistin Irina Simmes (lesen Sie hier: Irina Simmes als Adela in „Rumor“). Auch hier wird noch herzhaft Komödie gespielt, aber immer wieder unterbricht ein expressiv-tragisches Klavierkonzert das Oper(ette)ntreiben. Der blutige Fiddler, nun mit Clownsmaske, hat weitere stumme Auftritte. Die befrackten „Mazl Tov“-Künstler erscheinen wie Geister einer anderen Welt. Und auf einem der Screens beseitigt ein Videoschnitt von oben auf die Tastatur auch die letzten Zweifel, dass dieses Klavierkonzert eines für die linke Hand allein ist – jenes op. 17 in Cis-Dur, das Korngold für den Pianisten Paul Wittgenstein schrieb, der im Ersten Weltkrieg den rechten Arm verlor. Und dem Zuschauer, dem dieser Zusammenhang unklar sein sollte, wird er dadurch klargemacht, dass genau in dem Moment der erwähnte Pechvogel-Peter als vom Krieg versehrter Soldat auftaucht. So überlagert Yona Kim die eigentliche Handlung mit einer Geschichte von der Verfolgung der Künstler durch Krieg, Vertreibung und Staatsterror, in der sich die beiden Komponisten-Biographien so facettenreich spiegeln, dass man es hier nicht annähernd nacherzählen kann.
Muss man auch nicht – aber gesehen haben muss man es. Und gehört haben muss man es auch, vor allem wegen der exzellenten Sängerbesetzung, die der Heidelberger Operndirektor Heribert Germeshausen hier präsentieren kann. Die erwähnte Irina Simmes lässt keinen Zweifel daran, worauf ihre erwähnte Beliebtheit beruht: Ihr glockenklarer, im Grundcharakter lyrischer, aber mit leuchtend expressiver Tragkraft begabter Sopran veredelt den dramatischen Furor von „Madame“ ebenso betörend schön wie die vertrackten seelisch-stilistischen Wechselfälle, die Korngold in seine Laura-Partie hineingeschrieben hat. Die Mezzosopranistin Elisabeth Auerbach macht aus der Köchin Bejlja, eigentlich eine komische Figur, mit interessant herbem Timbre und großer dramatischer Gestaltungkraft eine beachtliche Charakterpartie. Und selbst in der relativ kleinen Rolle der Fradl in „Mazl Tov“ gestaltet Gloria Rehm ihr Liedchen so bezaubernd delikat, dass man elektrisiert aufhorcht.
Bei den Herren gelingt die Verschmelzung von Stimmcharakter und Partie nicht ganz so bruchlos, aber gleichwohl auf einem Niveau, das auch einem weit größeren Haus Ehre machen würde. Ipca Ramanovic hebt sowohl den Chaim und vollends den Peter Vogel mit dunkel und voll timbriertem Bariton weit über das erwartbare komische Rollenprofil hinaus, Winfrid Mikus gibt dem Reb Alter sehr markante Konturen, Alexander Geller widersteht als Hofkapellmeister Wilhelm Arndt mit edlem, klarem Tenor der hier allgegenwärtigen Verführung zur Knallcharge, und Namwon Huh als Florian parodiert gemeinsam mit Gloria Rehm als Lieschen den Aufstiegsehrgeiz der Dienstboten mit Stilgefühl und schöner vokaler Schwerenöterei. Den spektakulären Part des Klavierkonzerts spielt der in Mannheim lebende Pianist und Klavierlehrer Stanislav Novitskiy mit beachtlichem dramatischem Furor. Und all die ganze Herrlichkeit wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht der junge, 1989 in Heemskerk/Niederlande geborene Dirigent Olivier Pols dem musikalischen Geschehen mit viel Einfühlung den richtigen stilistischen und auch rhythmischen Schliff gegeben hätte. Wohl dem Opernhaus, das einen solchen Zweiten Kapellmeister hat!
Diese Rezension entstand nach einem Besuch der Generalprobe. Von der Premiere wurde übereinstimmend berichtet, dass das Publikum mit begeistertem Applaus reagierte. Also, auf nach Heidelberg, wo um die Premiere herum auch ein Symposion über „Komponieren und Dichten unter politischer Repression“ stattfand, mehr dazu hier.