Foto: Ein junger Statist mit Franz Mazura © Jörg Landsberg
Text:Elisabeth Richter, am 2. April 2017
Regisseur Frank Hilbrich erinnert in seiner Inszenierung der Oper „Lot“ von Giorgio Battistelli daran, dass die Wiege der Menschheit in Afrika liegt.
Am Anfang, vor Urzeiten, als die Erde noch wüst und leer war – glaubt man der Darstellung der Bibel –, war Gott noch mit sich im Reinen. Er schied das Licht von der Finsternis, die Erde vom Wasser, ließ Gras und andere Samen aufgehen, und: „Gott sah, dass es gut war“. Doch was geschah dann? Er „schuf den Menschen zu seinem Bilde …“, aber wie? Vielleicht war er müde am siebten Tag? Was ist das für ein Gott, der Katastrophen, Kriege, Flüchtlingsdramen, Fremdenhass zulässt, zugelassen hat? – Regisseur Frank Hilbrich erinnert sich in seiner Inszenierung der Oper „Lot“ von Giorgio Battistelli daran, dass die Forschung inzwischen weiß: Die Wiege der Menschheit liegt in Afrika. Gott ist bei ihm ein kleiner farbiger Junge im Baströckchen (Lebogang Kempe). Der knetet mit Lehm herum, um den richtigen Menschen nach seinem Bilde zu schaffen, donnert zornig den missratenen Klumpen auf den Boden und unternimmt den nächsten Versuch. Schließlich hat er genug und sammelt all die herumliegenden Entwürfe auf Papierbögen ein, stopft sie in eine große grüne Mülltonne, stampft den menschenunwürdigen Schrott mit seinen Füßen noch ordentlich zusammen. Was soll nur daraus werden?
Der Rest ist Geschichte: Inzwischen sind der 100-jährige Abraham und die über 90-jährige Sara aufgetaucht, ihnen werden Nachkommen verheißen. Abraham schließt den Bund mit Gott, gründet ein Menschengeschlecht. Er verhandelt noch, dass aus der lasterhaften Stadt Sodom vor ihrer Vernichtung sein Neffe Lot samt Familie gerettet werden soll. Soweit der Prolog in Battistellis Oper.
Im Epilog am Ende sehen wir die Kinderschar, die Lot mit seinen beiden Töchtern gezeugt hat, ein wenig merkwürdig – inzestuös gestört? – hinten über die Bühne laufen, samt Schafen und anderem Vieh. Übrig bleibt vorne nur der kleine Isaak, Abrahams und Saras Sohn, im schicken Anzug. Hoffnung für einen Neuanfang? Aus dem Bühnenhimmel ragt die große grüne Mülltonne in den Raum, die verworfenen Menschenentwürfe liegen als Abfall eines missglückten Versuchs wüst am Boden, Klein-Isaak guckt sie sich ratlos an.
Was ist in der Zwischenzeit passiert? Der kindliche Gott treibt gefährliche Experimente mit seinen unfertigen Menschen. Er schickt zwei schwarze Engel als Spione nach Sodom. Nur Lot gewährt ihnen Gastfreundschaft, die verkommene Gesellschaft will nichts mit den Fremden zu tun haben. „Pack“, „Abschaum“, „Gesindel“ lässt Battistelli den Chor skandieren, und Jenny Erpenbeck scheut sich in ihrem Libretto auch nicht vor noch drastischeren fäkalsprachlichen Attributen. Spätestens hier sind wir im Heute angekommen. Die Staatsoper Hannover serviert mit der Uraufführung von Giorgio Battistellis „Lot“ auch ein Stück Musiktheater am Puls der Zeit.
Der gläubige Lot hängt das göttliche Gebot der Gastfreundschaft allem äußeren Widerstand zum Trotz so hoch, dass er dem Mob zur Beruhigung sogar seine unberührten Töchter anbietet. Soweit kann Fundamentalismus treiben. Die Engel drängen zur Flucht, aber Lots Weib bleibt zurück. In Jenny Erpenbecks Sicht entscheidet sie sich ganz bewusst für den Untergang, denn wohin soll die Flucht gehen, in welche Welt, was wird kommen?
In den Bergen ist Lot mit seinen Töchtern auf sich gestellt. In der Bibel machen ihn die Töchter noch trunken und lassen sich schwängern, bei Jenny Erpenbeck vergewaltigt Lot sie. Im Nichts fehlt jede Verantwortung. Und doch entsteht in dieser „Stunde“ Null neues Leben. Nur welchen Entwurf wird Gott diesmal verwenden?
So wie Jenny Erpenbeck für ihr Libretto sich ziemlich genau an die biblische Darstellung hielt, hat Giorgio Battistelli in seiner dreiaktigen Oper mit Prolog und Epilog seine Vertonung durchgehend narrativ angelegt. Wie beim Libretto fehlen Sinnlichkeit, doppelter Boden, Assoziationsflächen. So ist die Welt heute, bitteschön, friss oder stirb. Battistellis Musik hat – dem Thema wohl geschuldet? – eher analytischen Charakter. Sie kommentiert oder kontrastiert weniger auf einer anderen Ebene, als dass sie die grausamen Geschehnisse musikalisch verstärkend beschreibt.
Erstaunlich sind die impressionistisch-wohlklingenden Klangflächen beim Prolog (im Himmel), in die Flöte oder Oboe immer wieder arabeskenartige Melodien zeichnen. Das erinnert schon ein wenig an Ravel. Seufzt Abraham, dass sich „so ein Bund mit Gott schwer trägt“, vermitteln Blech und Schlagwerk die Bedrohung. Wütet der Mob, wird die Musik rhythmisch-motorisch, und die Trompeten blasen scharfe Stöße. Heißt es Abschied nehmen von Vertrautem, sich dem Aufbruch ins Ungewisse stellen, bestimmen minimalistisch unruhige Patterns den musikalischen Charakter. Die Gesangsstimmen folgen stark der sprachlichen Diktion, sie sind über weite Strecken rezitativisch gestaltet. Bei von der Handlung her dramatischen Situationen entstehen durchaus packende Momente, aber es gibt einige auch mühsame, lange deklamatorische Abschnitte.
Ist die Bühne (Volker Thiele) in Prolog und Epilog eher weit und leer, erleben wir im ersten und zweiten Akt Innenräume. Lots Haus in Sodom ist nur ein erhöhter, nach vorn offener Kasten, später kommen rechts und links noch zwei Nebenräume dazu, in denen Lots Weib und Töchter mit sich vor der Flucht ringen. Beim nahtlosen Übergang zum dritten Akt verschwinden die Räume im Bühnen-Hintergrund im roten Licht (Susanne Reinhardt) der (ver-)brennenden Stadt. Regisseur Frank Hilbrich lässt die Szene zwar in einem fernen Irgendwo spielen, und manche Kostüme (Gabriele Rupprecht) lassen auch Assoziationen zu – etwa die vordergründig goldglänzende Garderobe des Gesellschaft von Sodom –, dennoch geriet manche Szene plakativ: Der lüsterne Lot in kurzen Unterhosen, der seine Töchter schändet, die idyllische Familenschar samt Schafen im Epilog.
Die musikalische Umsetzung von Giorgios Battistellis anspruchsvoller Partitur lag beim gesamten Ensemble der Staatsoper Hannover in allerbesten Händen. Mark Rohde leitete das exzellent präparierte Niedersächsische Staatsorchester souverän und genau. Brian Davis gestaltete die Titelpartie des Lot mit seinem warm timbrierten Bariton auch darstellerisch sehr facettenreich, Dorothea Maria Marx und Stella Motina vermittelten authentisch die Konflikte und geheimen Wünsche der beiden Töchter. Faszinierend waren die beiden Sänger von Abraham und Sara. Mit der Mezzosopranistin Renate Behle war die Partie der Sara mit einer Altmeisterin ihres Fachs besetzt, sie verlieh der Gott verlachenden Sara ein glaubwürdiges Profil. Und: Franz Mazura (92!) überzeugte im Prolog nicht nur mit einer staunen machenden Körpersprache und Präsenz, sondern mit seinem sonoren und textlich gut verständlichen Bass gab er der Rolle auch das nötige Gewicht.
Die aktuelle Thematik dieser Oper lässt einen natürlich nachdenklich nachhause gehen. Dennoch setzt Giorgio Battistelli den spannenden Stoff viel zu geradlinig und vordergründig um. So bleibt eine im ganzen inszenatorisch und vor allem musikalisch gelungene Aufführung.