Foto: Ensembleszene zu "Luther – das Kantatenprojekt" © Anna Kolata
Text:Joachim Lange, am 2. April 2017
Veit Güssow inszeniert „Luther – das Kantatenprojekt“ an den Bühnen Halle.
„Hätte hätte Fahrradkette“ – ist aus offensichtlichem Grund mal nicht von Luther. Sagen sie auch dazu. Aber sonst gibt’s ein Ping-Pong Feuerwerk von Luther-Worten, dass man nur so staunt, wie Lutherisch die deutsche Zunge doch geworden und geblieben ist. Es gehört zu den großen Vorzügen dieses Abends an der Oper in Halle, in dem sich Luthers Worte und Bachs Musik im Wartebereich des Flughafens Leipzig bei Halle (diese augenzwinkernde Korrektur muss sein), dass da nicht nur in den tieferen Schichten unseres kollektiven Bewusstseins, also im Gedächtnis der Sprache, gegraben, sondern auch die Pointe aufgehoben wird, über die man auf der Gasse bzw. der von Daniela Kerk vorgegebenen Bühnenwelt stolpert.
Es hätte auch gewaltig schief gehen können, wenn sich ein Opernhaus im Kernland der Reformation dem langsam auf vollen Touren laufenden Rummel um das 500-Jahre-Jubiläum einlässt und seinen Beitrag liefert. Ist es mit diesem arbeitstitelig benannten „Luther – Das Kantatenprojekt“ aber nicht. Ganz im Gegenteil! Halle hat bei der Gelegenheit auch einen Bürgerchor bekommen – und der schlägt sich ganz hervorragend. Man kommt nicht nur in Sachen Lutherworte in der Alltagssprache klüger raus, als man ins Opernhaus hineingegangen ist, man darf sich an einer Dosis praktizierter Dialektik beim Ausleuchten einer so imponierenden wie vielschichtigen Persönlichkeit erfreuen, bei der auch dessen widerlicher Antisemitismus und die allzu tiefe Verbeugung vor der Obrigkeit auf den Tisch des Hauses, sprich: auf die Bretter, die die Welt bedeuten, kommen. Und man wird auf sich selbst zurückgeworfen und obendrein auch noch gut unterhalten.
Halles stellvertretender Intendant Veit Güssow hat sich das nicht nur gescheit ausgedacht und alle Versatzstücke der Collage zu einem in sich stimmigen und dramaturgisch funktionierenden Ganzen gefügt, er hat es als Regisseur auch mit Sinn für Balance aus Pathos und Ironie und für das richtige Tempo umgesetzt. Rausgekommen ist kein trocken überspanntes Vorführ- oder Feiertheater, sondern eins, das ergreift. Nicht nur, aber auch, weil (neben dem Kinder- und Jugendchor und Herren des Opernchores) über 100 Hallenser in genau dieser Eigenschaft, als Hallenser also, mitmachen. Als Zeitzeugen, die den Herbst 1989 aus ihrer persönlichen Sicht schildern. Als Referenten von Protokollauszügen des Bundestages über die Feierlichkeiten zur Reformation und ihre Bedeutung für Tourismus und Auslandsmarketing. Aber auch als Jubiläumsredner der Jahre 1617,1717,1817 und 1917. Inklusive Gauck 2017. Wobei da jedes Mal wenn das Wort „Freiheit“ fällt (und das passiert recht oft), das ganze Zeitreise-Personal auf der Bühne auf die Zehenspitzen wippt. Am Ende, wenn der Chor ausschwärmt und die Zuschauer im Saal umrahmt, wenn von oben die Trompetentöne erschallen und Christopher Sprenger im Graben mit der Staatskapelle nochmal richtig aufdreht, muss man sich jedenfalls beherrschen, um nicht einfach mitzusingen. Bei „Eine feste Burg ist unser Gott…“ und „Wenn die Welt voll Teufel wär…“. Aber warum eigentlich? Falsche Andacht gab es bis dahin nicht in der Halle mit den großen „ARRIVEE/ARRIVAL“ und „DEPART/DEPARTURE“ Schildern, die der sprichwörtliche Aufs-Maul-Schau-Held des Abends sicher ins Deutsche übertragen hätte.
Für die Struktur dieser Wartezeit auf einen sich verzögernden Abflug sorgt schmuckes, auf Dauer-Freundlichkeit geschaltetes Bodenpersonal. Das wird koloratursicher, wortgewandt und mimenstark von Romelia Lichtenstein angeführt. Mit Svitlana Sylvia für die Altpartien an ihrer Seite. Von den hippeligen Passagieren kommentiert Robert Sellier die Teilung nach Klassen schon im Wartebereich mit der Bach-Arie „Nur jedem das Seine!“. Und der reisende Geistliche Ki-Hyun Park führt sich mit seinem ausdrucksstark beweglichen Bass und einem „Es hat die Dunkelheit an vielen Orten überhand genommen“ ein. (Die musikalischen Bach-Häppchen sind bis zur laufenden Nummer 32 durchnummeriert.)
Dann kommt Luther. Als Astronaut. Gute Beziehungen nach oben zahlen sich halt aus. In dem Raumanzug wogt der mächtige Leib von Martin Reik, der sich alsbald, ohne dass jemand die Echtheit dieses „Hier stehe ich“ bezweifeln würde, als Martin Luther zu erkennen gibt. Mit dem Holzhammer (nur) in der Hand. Mit dem er zwar kein Papier an eine Kirchenpforte genagelt hat, wie er klarstellt, aber doch den vielen kleinen Teufeln (von denen ein paar verdammt nach Papst, Muselmann und Jude aussehen) eins aufs Haupt gibt. Restlos zur Mimen-Hochform läuft Reik auf, wenn er die Bibel übersetzt, als hätte sich der Doktor Faust in eine Studierstube auf der Wartburg verirrt. Den kalten Schauer treibt er den Hörern auf der Bühne und im Saal über den Rücken, wenn er gegen die Juden wettert. Grandios wie ihm Romelia Lichtenstein da einen Blick zuwirft, (eine verschärfte Variante von Angela Merkels vielsagend kommentierenden Blick auf Donald Trump neulich in Washington), und dem verdattert dastehenden Judenhasser alle nach und nach ein „Ich habe genug“ entgegenhalten. So funktioniert das auch, wenn den Berichten über ’89 und einen nachgespielten (ersten) freien Wahlgang markige Bekenntnisse zur „Obrigkeit“ und dem „neuen Regimente“ entgegenschallen.
Das ist klug gemacht, ohne zu bevormunden. Dass man die Sprache der Politiker nur eine Nuance anders betonen muss, um sie zu Realsatire zu machen, ist nicht neu – aber mit diversen Beispielen zur Reformationsjubiläums-Vermarktung in Erinnerung gerufen. Auch (oder weil) dieser Abend die Kritik an seinem Thema gleich mitliefert, ist er großartig! Erleichterter und ungeteilten Jubel!