Das liegt zu allererst an dem Achtzigminüter in sechs Szenen, für den Trojahn auch das Libretto verfasst hat. Gehört es doch zu den Werken, die sich (selbst-)bewusst auf den Schultern großer Vorgänger erheben und ihre Eigenständigkeit behaupten, ohne sich von ihren Quelle abzuwenden oder sie zu verleugnen. Auf diesen „Orest“ ist man vorbereitet, weil Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss hinter (oder besser vor) dieser Geschichte stehen und auch Hans Werner Henze (vor allem mit seinen „Bassariden“) eine inspirierende Patenschaft reklamieren könnte. Bei Trojahn wird das zu einem Vorzug. „Orest“ ist eine direkte Fortsetzung der „Elektra“. Was für einen Textdichter und Komponisten schon etwas Tollkühnes hat. Doch er findet auf Anhieb zu einer eigenen Wortgewalt für das Schicksal des Muttermörders Orest, der sich als Werkzeug eines Gottes wähnt (der immerhin die Ordnung der Werte vom Matriarchat zum Patriarchat umstürzt), aber doch mehr zum Werkzeug seiner geradezu von Rache besessenen Schwester Elektra wird. Die wandelt bei Trojahn auf der Suche Blutspur ihrer Mutter, die in Zürich als personifizierte Halluzination ebenso dabei ist, wie ihr Liebhaber Ägisth. Diese Elektra hat etwas beängstigend Fundamentalistisches, redet wie jene Klytämnestra vom Schlachten, von Blut, vom Jäten, ist auf verhängnisvolle Weise die Tochter ihrer Mutter.
In Zürich wird all das äußerst wortverständlich gesungen, übertitelt und der Text im Programmheft mitgeliefert. Und das ist gut so! Elektras „Der auf der Seite des Rechtes steht, kann kein Schuldiger sein“ mag man ebenso wenig einfach so passieren lassen, wie das Folgende: „…es muss gejätet werden im Garten der Welt, jede üble Pflanze, auf das nichts nachwachse!“ und schließlich „Wir sind Erwählte, Bruder. Schuldlos schuldig ist unser Ziel der Tod, auf dem Weg dahin Jäten wir.“ Da stockt das Blut schon in den Adern, wenn man es nur liest! Und Trojahn findet dazu auch noch die Musik, die hineinzieht und packt!
Dem einst so rebellischen, aber lebenslang nachhaltigen Hinterfrager und szenischen Nach-Denker Hans Neuenfels mag das im Programmheft abgedruckte Nietzsche-Zitat „Wie? Ist der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes? Oder Gott nur ein Fehlgriff des Menschen?“ wie eine Aufforderung vorgekommen sein, um sich bei Trojahn unterzuhaken und mit ihm einen Ausweg zu suchen aus dem Menschen-Verhängnis für das die Atriden so exemplarisch stehen. Orest lässt sich zwar von Elektra (Apollo? oder sich selbst?) noch dazu verleiten, auch die heimkehrende Helena als vermeintliche Ursache allen Übels zu töten. Aber bei deren unschuldiger Tochter Hermione ist für ihn Schluss. Die hat so in Marmor gehauene Sätze wie: „Nirgends ein Traum, nur kruder Wille und kranke Macht.“ drauf und bekommt von der jungen Claire de Séviagne die zartesten Engelstöne dazu. So wirft Orest Apollo die Gefolgschaft gleichsam vor die Füße: „Ich bin nicht der, der ich sein soll, ich bin nicht der, der ich bin, ich werde der sein, den ich finden werde – Ich geh und diese hier, die ich ansehen kann, sie geht mit mir. Du aber bleibst, alter Gott – du brauchst die Angst der Erstarrten….“ Gut gebrüllt, Mensch!
Neuenfels entlässt die beiden in eine dunkle Ungewissheit, die sie auch verschlucken könnte. Aber sie haben zumindest eine Chance. Mit den zarten „Orest. Orest“ Rufen korrigiert Trojahn seine großen Vorgänger gleichsam um ein Fünkchen Hoffnung. Und dann verschwindet die Musik wieder dorthin, woher sie am Anfang gekommen war: in das Innere, Unterbewusste des Orest. Oder des Menschlichen überhaupt?
Die Uraufführungsinszenierung von Katie Mitchell in Amsterdam hatte das ganze in den Alptraum kleinbürgerlicher Enge projiziert. Enrico Lübbe stetzte dann, in Hannover, auf ein postkatastrophisches Szenario. Neuenfels bleibt beim Grundsätzlichen, nimmt das Archaische, Diskursive und die Klang gewordenen Abgründe als Exkursion durch das Unterbewusste beim Wort. Kommt damit dem Werk als solchem vielleicht am Nächsten. Es ist eine der klarsten, nicht auf Ver- sondern auf Enträtselung gerichteten Arbeiten von Neuenfels, ein geradezu klassisches Alterswerk ohne jede Ermüdungserscheinung auf der intellektuellen oder sinnlichen Ebene. Er gönnt sich und uns sogar ein geradezu kulinarisches, mit Kriegern gefülltes Trojanischen Pferd….
Orest wird am Anfang wie in einem Alp- oder Fiebertraum von der toten Klytämnestra und von Ägisth gepeinigt, dann von seiner Schwester Elektra bedrängt. Es ist grandios wie Georg Nigl die Ambivalenz dieses Getriebenen, als opferendes Opfer sichtbar macht. Wie er schuldlos schuldig wird. Und sich dann aber befreit. Der Raum (Bühne: Katrin Connan) ist eine stilisierte Matrazengruft, die Wände übersät von geometrischen Waben, die sich durch eine projizierte Überblendung zu bewegen scheinen. Kafkaesk auch jene doppelköpfige Zikade, die über die Bühne kriecht. Das ist ebenso unwirklich wie das Auftauchen von Helena, mit einem Prachtumhang (Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer), der jeder Königin der Nacht gut anstünde, und der Claudia Boyle vehemente Attraktivität und hellumstrahlte Schönheit wie aus einer anderen Welt verleiht. Aus der kommt sie ja auch. Die düstere Elektra Ruxandra Donose dagegen hat das Verhängnis verinnerlicht. Seine Doppelrolle als Apollo und Dionysos bewältigt Airam Hernandez mit seiner durchdringenden Vitalität – die Verwandlung durch den goldenen Phallus und ebensolchen Lorbeerkranz, die er im Bedarfsfall immer bei der Hand hat. Raymond Very darf als Menelaos imposant der Mäßigung eine Lanze brechen.
Der Basler Orchesterchef Erik Nielsen schließlich erweist sich als äußerst kompetenter und präziser Sachwalter Trojahns am Pult der Philharmonia Zürich. Diese exemplarisch gelungene Orest-Produktion weckt den Wunsch, Trojahns Wurf wirklich mal an einem Abend kombiniert mit der „Elektra“ zu erleben. Etwas besseres lässt sich kaum über diesen „Orest“ sagen.