Sidi Larbi Cherkaouis 2009 in London uraufgeführte Choreographie „Faun“ ist von anderem Kaliber, hält sich nur entfernt an das bekannte Vorbild, Nijinskys „L’après midi d’un faune“, verwendet allerdings wie dieser Claude Debussys gleichnamige Musik, ergänzt von lyrischen Vokalbeigaben, die Nitin Sawhney komponiert hat. Zu sehen ist ein unerhört erotisch aufgeladener, animalisch anmutender Pas de deux mit Pablo von Sternenfels als Faun und Hyo-Jung Kang als Nymphe. Urwüchsig raubtierhaft ist seine tänzerische Virtuosität, wild, gierig und sprungbereit. Sie agiert sinnlich weich und verführerisch. Ihre Gliedmaßen scheinen zuweilen kunstvoll verschlungen, bieg- und schmiegsam. Anfangs beäugen und umschleichen sich beide. Später drängen sie sich Rücken an Rücken oder schwingen sich lustvoll durch Beingrätschen des jeweils anderen hindurch. Nicht nur der feucht glänzende, von einem Blätterteppich bedeckte Herbstwald-Boden im Hintergrund wirkt triebhaft schwül.
Das als deutsche Erstaufführung gebotene Tanzstück „Le Spectre de la Rose“ von Marco Goecke (zu Carl Maria von Webers „Aufforderung zum Tanz“) huldigt als zeitgemäße Version ebenfalls einer Ballett-Legende, einer seinerzeit von Nijinsky getanzten Fokine-Choreographie. Goecke, der sich mit dem Tänzer Nijinsky in seinem gleichnamigen Ballett auseinandergesetzt hat, findet freilich einen völlig andersartigen Zugang zu dem poetischen Stoff. Er ordnet dem Hauptpaar, dem von Agnes Su verkörperten Mädchen, das vom Rosengeist (hier Adam Russell-Jones) „heimgesucht“ wird, sechs weitere in roten Samtanzügen auftretende Kavaliere zu, die wie bei einer Hochzeitsprozession Rosenblüten verstreuen. Sie sind Gespielen der traumverlorenen Tänzerin, die in langen schwarzen Hosen Zitter-Orgien vollführt. Russell-Jones verzichtet, rosengeschmückt und berauscht, auf hohe Flugbahnen und gewaltige Sprünge. Sein Rosengeist-Solo entfaltet in charakteristischer Goecke-Manier eine ganz eigenwillige Bewegungssprache. Er steht mit zuckelnd-ruckelndem Oberkörper angewurzelt im Spotlight – raumgreifend die Gesten der Arme und Hände, wunderlich verzückt die Haltungen des Kopfes.
„Die Melodie“ und damit der eigentliche Protagonist in Maurice Béjarts schon 1961 uraufgeführtem „Bolero“ ist der exzellente Stuttgarter Solotänzer Friedemann Vogel. Er markiert zu Ravels Musik in einem mitreißenden Crescendo den Höhepunkt des Vierteiler-Abends. Das kreisrunde, erhöhte Podest, auf dem er im zunehmend spannungsverdichtenden Wiegeschritt wie ein „auf der Stelle tretender“ Marathonläufer seinen Tanz zelebriert, ist milieugemäß in Rotlicht-Stimmung getaucht. Die ungewöhnliche Table-Dance-Szene kulminiert in geschmeidigen, trancehaften Körperfigurationen, von denen die um das Podest als Zuschauer sitzenden 36 männlichen Ensemble-Mitglieder überwältigt scheinen. Zu den erregenden Bolero-Schlussakkorden springen sie auf und umschließen den Tänzer-Tisch wie eine aufblühende Korallenrose. Allen vier Choreographien, vor allem aber dieser letzten, ist das von James Tuggle geleitete Staatsorchester Stuttgart ein motivierender musikalischer Begleiter.