Szene aus "Gott wartet an der Haltestelle" am Staatsschauspiel Dresden

Im Angesicht des Terrors

Maya Arad Yasur: Gott wartet an der Haltestelle

Theater:Staatsschauspiel Dresden, Premiere:09.12.2016 (DE)Regie:Pinar Karabulut

„1, 2, 3, 4, 5, 6, BOOM!“, ruft die Palästinenserin Amal und zielt mit den Händen symbolisch auf willkürlich ausgewählte Zuschauer. „Es gibt einen Grund, misstrauisch zu sein, wenn der Mann unruhig zu sein scheint oder die Frau unruhig“, sagt später die israelische Soldatin Yael und blickt ins Publikum, als sie weitere Indizien aufzählt. Es kann jeden treffen, und beinahe jeder kann der Attentäter sein. Dieses Misstrauen säht der Terrorismus, und diese Botschaft ist zentral in Maya Arad Yasurs Stück „Gott wartet an der Haltestelle“, dessen Deutsche Erstaufführung die Regisseurin Pinar Karabulut im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden in Szene gesetzt hat. Nur ein Teil des Publikums sitzt an den Seiten auf einer der beiden sich gegenüberliegenden Tribünen, einige Zuschauer werden schon beim Einlass gebeten, an den Tischen auf der Bühne Platz nehmen, mitten mit Geschehen. Bühnen- und Kostümbildnerin Franziska Harm hat ein paar schlichte schwarze Tische und Stühle zu einem einfachen Lokal arrangiert, in dessen Mitte schon die Protagonistin sitzt: die Selbstmordattentäterin Amal.

Hintergrund ist der Konflikt zwischen Israel und Palästina, genauer gesagt die zweite Intifada als eine Hochphase der Selbstmordattentate in Israel. Dieser Konflikt mag zwar mit dem gegenwärtigen islamistischen Terror im westlichen Europa nicht vergleichbar sein – doch auch in Deutschland ist die Sorge der Menschen gewachsen, überall und jederzeit in der Öffentlichkeit Opfer eines Terrorakts werden zu können: im Bus, an der Haltestelle, im Café. Die Krankenschwester Amal, getarnt als schwangere Frau, sprengt sich in einem Restaurant in Haifa in die Luft und reißt 30 Menschen mit in den Tod. Was sie zu dieser Tat gebracht hat, ist nur eine der zentralen Fragen des Stücks. Eine andere lautet, welche Gegebenheiten und Beteiligten die Tat ermöglicht haben. Wäre es dazu gekommen, hätte beispielsweise der Taxifahrer Jamal sie nicht mitgenommen? Oder wenn die junge israelische Soldatin Yael sie am Grenzposten nicht hätte passieren lassen, obwohl Amal keinen Tasrich, also keinen Passierschein hatte?

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Nach und nach setzt sich durch Rückblenden bruchstückhaft die Geschichte zusammen. Bei der Krankenschwester Amal sind es persönliche Motive, die sie zur Täterin werden lassen. Sie wächst glücklich auf – Henriette Hölzel spielt die junge Frau anfangs entsprechend leichtfüßig und strahlend – doch dass Bruder und Vater durch israelische Hände sterben müssen, lässt ihren frohen Geist zerbrechen. Die Prediger haben leichtes Spiel bei ihr, nur mit wenigen Sätzen wird ihre eigentliche religiöse Radikalisierung beschrieben. Dass die unverheiratete Amal mit der Tat zur Braut ihres Landes werde, so lautet eine der Versprechungen. Diese verkürzte Beschreibung gehört zu den wenigen Schwächen des Stücks, das sich jedoch erfolgreich gegen politische Parteinahme wehrt, indem es um die Vielzahl der Perspektiven bemüht ist.

Die Allgemeingültigkeit der im Stück verhandelten Konflikte betont Regisseurin Pinar Karabulut nicht nur, indem sie die Zuschauer mit den Schauspielern sprichwörtlich an einen Tisch setzt, sondern auch, indem sie betont, wie austauschbar die Personen der Geschichte sind. So müssen sich die Schauspieler durch zahlreiche Rollenwechsel spielen: Loris Kubeng ist mal Mitarbeiter des israelischen Inlandgeheimdienstes, mal Amals Bruder Fares, dann der behandelnde Arzt von Amals Vater Thaiser, den Mathis Reinhardt ebenso spielt wie den israelischen Leutnant Yaniv, und den Kellner des Lokals. Ein paar kleine Veränderungen des jeweiligen Kostüms verwandeln Nikolas Streit vom Soldaten Zachi in den Taxifahrer Jamal oder in Amals Mutter Nabila. Zügig und stolperfrei erfolgen die Rollenwechsel, so wie überhaupt ein Großteil der Szenen von einer ununterbrochenen Spielenergie der Darsteller gekennzeichnet ist. Diesen hat Pinar Karabulut nahezu permanent Bewegung verordnet, die den Abend dynamisch, manchmal auch hektisch werden lässt. Laute Musikeinsätze verleihen den Dialogen zusätzlich Wucht. Und immer wieder wird das Publikum ins Spiel eingebunden, wobei die Regisseurin gerne (wie schon in früheren Inszenierungen) durch den humorvollen Einsatz von echten Lebensmitteln ein Stück banale Realität ins Spiel holt: Den Zuschauern fliegen dabei schon mal Fetzen von Eierschale in den Schoß, wenn sich die junge Soldatin Yael (Laina Schwarz) zwischen ihren Liegestützen ein gekochtes Ei pellt und in den Mund stopft – während der Leutnant Yaniv gerade die Ankunft eines neuen Soldaten mit den „Eiern eines Stiers“ ankündigt, wohlbemerkt. Wie energisch Laina Schwarz die junge Soldatin spielt, dabei beständig durch den Raum jagt und immer wieder das Publikum fixiert, ist bemerkenswert.

Henriette Hölzels Amal hat am Ende jedwede Lebensfreude aus ihren Gesichtszügen gestrichen, allenfalls traurigen Stolz zeigt sie in ihrer Körperhaltung, als sie in der finalen Szene – ohne Babybauch, dafür in einem bedeutungsschwangeren weißen Brautkleid – langsam die Grenze überschreitet und dabei einfach über Yael klettert, die sich in der Hocke kauernd die Augen zuhält. So changiert die Inszenierung zwischen unterhaltsamen, fesselnden und reichlich beklemmenden Arrangements. Ein wenig Effekthascherei ist dabei nicht von der Hand zu weisen, trotzdem ist Pinar Karabuluts Zugriff insgesamt berückend. Dabei ist der vielleicht beste Effekt des Abends absolut simpel: Entgegen einer anfänglichen Beschreibung der Explosion als ohrenbetäubend wird die Inszenierung gerade im Moment der Tat zuletzt unvermittelt leise: Dunkelheit und Stille anstelle eines lauten „Booms“. Weniger ist eben manchmal mehr.