Foto: Szene mit dem herausragenden William Moore. © Gregory Bartardon
Text:Ulrike Kolter, am 3. Dezember 2016
Mal ehrlich: Was können wir Mittdreißiger in unserer postreligiösen Gegenwart noch mit der katholischen Liturgie anfangen? An einer Totenmesse wie Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“ mal wieder ernsthaft lateinisches Textstudium zu betreiben, holt die verschüttete Gewissheit zurück: Hier wird eine einzige große Drohung vertont, nämlich, dass der schwer sündenbeladene Mensch am „Tag des Zorns“ vorm Jüngsten Gericht antreten muss, verängstigt um Gnade fleht, um der Hölle noch zu entgehen. Überhaupt dieser konstant aufflammende Himmel-Hölle-Dualismus! Was kann uns Erlösung heute schon noch bedeuten? Und wie schreibt Thomas Assheuer im Programmheft so treffend über uns Kinder der Moderne: „Der aufgeklärte Tod ist nur noch der eigene, radikal subjektive – ein natürliches Übel und nichts sonst.“
Bereits Giuseppe Verdi war, obgleich katholisch erzogen, bekanntlich kein besonders religiöser Mensch. Man hört das seinem Requiem auch an in seiner dramatisch-musikalischen Logik. Nicht umsonst gelangte es nach seiner Uraufführung in einer Mailänder Kirche 1874 alsbald auf wichtige Bühnen europäischer Opernhäuser. Und das natürlich nicht wegen seiner liturgischen Bedeutung, sondern wegen der emotionalen Sogkraft der Musik. In Zürich hat Ballettdirektor Christian Spuck nun gewagt, das Requiem in einer großen Koproduktion von Oper und Ballett szenisch auf der Bühne zu realisieren, mit einer herausragenden Solistenbesetzung und Generalmusikdirektor Fabio Luisi am Pult.
Natürlich weiß Spuck um die Problematik des Textes und nähert sich dem oratorischen Werk ganz auf musikalischer Ebene: mittels Abstraktion und strikter Vermeidung jeglicher narrativer Bebilderung. Im Mittelpunkt von Spucks Interpretation steht der Mensch mit seinem individuellen Schicksal, verlassen worden oder im Angesicht eines Verlustes, einsam meist oder kollektiv verzweifelt in einer dunklen Menschenmasse untergehend. Der für solcherlei Settings bewährte und geschätzte Bühnenbildner Christian Schmidt hat ihm hierfür einen düsteren Raum bauen lassen, mit dunkelgrau marmorierten Wänden und einer Decke, die nur einige quadratische Fenster nach oben (gen Himmel?) lässt. Dunkle Asche bedeckt stellenweise den Boden, klebt mal an den Leibern der Tänzer oder rieselt den Sänger-Solisten durch die Finger davon. Wenn gleich anfangs beim „Requiem aeternam“ und später immer wieder Tänzer ihre Partnerinnen an diesen dunklen Wänden in ausdauernden Hebungen emporschieben, die Damen dort gleichsam klebend hängen, gelingt Spuck ein bedrückendes Bild für die Grundstimmung des Abends: Aus diesem dunklen Lebensloch gibt es kein Entkommen.
Spuck hat ja Erfahrung sowohl als Opernregisseur als besonders auch in der szenischen Arbeit mit Chören – das ist nicht zu verkennen. Noch in den Probenarbeiten hatte der gebürtige Marburger in einem Interview bemerkt, der Versuch, Tanz und Gesang zu verschränken, sei zum Scheitern verurteilt – dann müssten Sänger tanzen und Tänzer singen. Viele choreographisch misslungene Beispiele geben ihm Recht, nicht jedoch sein eigener Versuch über Verdis „Requiem“. Wie geschickt er es immer wieder versteht, diese riesige Menschenmasse aus Chor, Tänzern und den vier Sänger-Solisten zu führen, ineinander verschwinden und aus dem Nichts wieder auftauchen zu lassen, ist schlicht grandios. Mal säumt der Chor (Einstudierung: Marcovalerio Marletta) hinten und seitlich den Bühnenrand, zart nur mit den Armen gestikulierend, mal rasen alle (!) von links nach rechts und zurück über die Bühne, ehe der Chor im Hintergrund sich aufstellt und das „Dies irae“ schmettert, während vorn William Moore (Erster Solist in Spucks Ensemble, siehe Bild) in einem seiner furiosen Soli mit nacktem, aschebeschmierten Körper eine heftig sich windende Kreatur abgibt, mit Händen zu Krallen gebogen und gehockt sich im Hohlkreuz nach hinten verdrehend.
Die vier gastverpflichteten Sänger-Solisten harmonieren formidabel – mit Ausnahme des (hierfür!) fast schon zu dramatisch veranlagten Tenors Francesco Meli. Wenn der im „Ingemisco“ kniend seinen Gott um Vergebung anfleht, klingt das eher nach Liebesdramatik à la „Celeste Aida“. Mit einem würdevoll getragenen, markerschütternden „Mors stupebit“ tritt weit vorher Georg Zeppenfeld aus der Masse des Chores. Der Weltklassebass versteht es ebenso wie die Sopranistin Krassimira Stoyanova und die italienische Mezzosopranistin Veronica Simeoni, trotz Opernbühne einen angemessenen Duktus zu finden. Das „Agnus dei“ beider Frauen gerät ohne Übertreibung zur musikalischen Sternstunde, kurz auflodernder Applaus wird (zu recht) im Keim erstickt.
Fabio Luisi nimmt Tempi und Dynamik expressiv, lässt aber etwa im „Lacrimosa“ auch sehr getragene, fast überartikulierte Passagen zu. Dass ihm im finalen „Libera me“ Chor und Orchester kurzzeitig auseinanderzudriften drohen, liegt an der musikalisch schwierigen, optisch aber ergreifenden Massenszene: Chor, Tänzer und Solisten stehen, gedrängt und kreuz und quer über die Bühne verteilt, nebeneinander.
Spuck hat für diesen Abend sein komplettes Ballettensemble aufgeboten, er wollte bewusst alle Tänzerpersönlichkeiten einbinden. Viele Szenen zeigen dann auch sehr intime Momente, Pas de Deux mit unfassbar langen Hebungen, Umklammerungen, vergeblichen Fluchtversuchen. Wie sehr Chorsänger, Tänzer und Solisten momentweise verschmelzen zu einer riesigen Körperwelle, dürfte jegliche Zweifel über tanzende Sänger widerlegt haben. Am Ende sinkt über alle die Bühnendecke herab, langsam und immer tiefer, begräbt uns quasi lebendig. Hoffnung auf Erlösung ist das nicht.