Das schöne bürgerliche Wohlleben der Familie Darling ist einer zunehmend technisierten Welt abgetrotzt. Timothy Oliver und Talya Lieberman werden als Wendys Brüder rasch von den Begebenheiten hier und dort abgehängt. Auch Wendy fällt es schwer, mit dem Tempo in Nimmerland Schritt zu halten. Musik und Szene reihen Wahrnehmungsbrocken, anstelle „realistischer“ Gemächlichkeit herrscht tatsächlich die Unlogik und Zeitsprunghaftigkeit eines Traums.
Schon der Anflug Wendys und ihrer Brüder auf Nimmerland erfolgt nicht in braven Bögen und Reihen, sondern ist ein wirres Fallen, Steigen, Herumkurven und Purzeln. Das Leben dort birgt massive Gefahren. Die technischen Lustkiller aus dem Alltag der Kinder tauchen auch in Nimmerland auf. Das Krokodil mit dem Wecker im Magen ist eine Standuhr mit „Klapperschwanz“, das Piratenschiff ein hölzerner Omnibus. Aus dem Rundpanorama des Darling-Kinderzimmers generiert der Bühnenbildner Jason Southgate mit Klappkulissen die Trauminsel. Auf der Vorderbühne verläuft ein Gleis, auf dem Miniwaggons mit den Londoner Architektur-Wahrzeichen und noch manch anderem vorbeifahren.
Dabei geht es nicht (nur) um das Gegenüber von Wohlstand und Abgrund: Die Welten durchdringen sich wie bei „Nussknacker und Mausekönig“ in Hoffmannesker Willkür. Richard Ayres hat einen aggressiven Zug in der Musik. Percussions mit vielen Schlaginstrumenten, Bläsergruppen unterwirbeln die vielen vorantreibenden Ensembles lautstark und klangintensiv. Vereinzelt blitzen Intonationen auf, die thematisch und situativ an ähnliche Momente bei Janacek, Wagner, Orff denken lassen. Nie kann man sich gewiss sein, ob das kompositorische Absicht ist oder das Orchester täuschen soll. Richard Ayres verströmt sich in inspirationsreicher musikalischer Fülle, deren Spannungspotenzial bis zum Schluss tragfähig bleibt. Die Partitur erfordert deshalb ganz große szenische Einfallskraft, der Keith Warner nichts schuldig bleibt. Also geht es unter, dass Christiane Oelze, die Mutter Darling, zur Tiger Lily wird und Ashley Holland von Vater Darling zu Captain Hook.
Es sind Erwachsenenprobleme, die Wendy und Peter Pan aggressiv ausagieren. Mirka Wagner als Wendy ist blond und erstaunlich erwachsen. Sie überfordert sich im Haushalt der Verlorenen Jungen und trifft mit ihrer innigen Verbundenheit zu den Eltern auf weit weniger Sentimentalität als in anderen Bühnenfassungen. „Schneewittchen“-Gemütlichkeit kommt bei diesem rauen Leben der permanenten Bandenkämpfe nicht auf. Die Piraten haben Witz und Gewaltbereitschaft – die Verlorenen Jungen auch. Eric Jurenas als Peter Pan trotzt dem Mannwerden in starrer Troll-Natur und rigider Einsamkeit. Sein Countertenor hat wenig knabenhaften Reiz, die bei Sprechstellen in „normaler“ Männerlage eingesetzte Stimme zeigt echt „panische“ Doppelnatur. Sicher hat Peter Pan in einem ganz perfiden „Sommernachtstraum“ schon längst alles gelernt, was er braucht.
Nigel Lowery treibt und reibt in seiner von Neil Robinson einstudierten Inszenierung die Gruppen des Kinderchors (Sonderapplaus für die Leiterin Dagmar Fiebach), der Herren Chorsolisten (einstudiert von Andrew Crooks) und der Komparserie in frontalen Bewegungen aufeinander. Der Flug- und Kampfkoordinator Ran Arthur Braun macht in telepathischer Teamarbeit mit dem Choreografen Michael Barry vergessen, dass alles einem ausgetüftelten Produktionsplan folgt.
Dieses Auftragswerk – das verdankt sich auch Anthony Bramall am Pult des diesmal lässig seine Zurückhaltung aufgebenden Orchesters – zeigt gleich zwei Kategorien des Musiktheaters, die einem jugendlichen Publikum oft vorenthalten werden: Wildheit und vitale Lust. Dieser „Peter Pan“ hat bei aller Farbigkeit von Nicky Shaws Kostümen die Verniedlichungen des Genres „Kinderoper“ abgestreift und macht als ganz „Große Oper für Kinder“ Eindruck. Wenn nicht alles täuscht, wussten die jungen Zuschauer das in der Premiere sehr zu schätzen.