Für das mitreißende Frauenschicksal griff Anna Vita, wie der Titel ihrer überzeugend schlüssigen Ballettadaption verrät, auf den fiktionalen historischen Bestseller-Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Donna Woolfolk Cross (1996) zurück. Vor sieben Jahren hatte Sönke Wortmann die Buchvorlage bildgewaltig mit Johanna Wokalek in der Hauptrolle für eine breite Masse filmisch opulent in Szene gesetzt. Wer sich noch daran erinnert (oder die DVD zurate zieht), ist bestens auf den inhaltlichen Verlauf des Abends vorbereitet. Das Sujet des mutigen Mädchens Johanna aus dem mittelalterlichen Ingelheim am Rhein, das sich dank Talent und Verstellung in einer maskulin dominierten Lebenswelt als Mönch zuerst in einem Kloster in Fulda, später gar in Rom behauptet, erstmals allein Kraft eines rein tänzerischen Vokabulars aufzurollen, war dennoch – oder gerade deshalb – ein Wagnis für die Compagnie.
Fazit am Ende des straff und stringent über zwei Stunden dahinrauschenden Abends: Die Umsetzung ist geglückt! Vielmehr noch: „Die Päpstin: Das Ballett“ hält Vergleichen stand (zum Beispiel mit der Dramatisierung von Susanne F. Wolf aus dem Jahr 2012, die im November im Stadttheater Fürth gastiert) – wortlos zwar, dafür musikalisch zur Ausdrucksspannbreite der mal solistisch, mal im Gruppengefüge ins Licht gerückten Tänzer stimmig unterlegt mit einem Mix mittelalterlicher Tanzmusiken, gregorianischer Gesänge, Kompositionen von Johann Sebastian Bach oder Henryk Górecki, zeitgenössischen Chorcollagen unter anderem von Arvo Pärt und elektronischen bzw. avantgardistischen Klängen der Kultband Apocalyptica.
Keines der bedeutenden Motive wie der Familienzusammenhalt (wichtig im ersten Teil: Aleksey Zagorulko und Mihael Belilov, Johannas ungleiche Brüder), die Unterdrückung (die oft à part ausgetanzte Wut und Zerrissenheit verrieten Cara Hopkins mütterliche Hilflosigkeit), Bedrohung, Korruption und letztlich die in Hinterhalt und Fehlgeburt gipfelnde Unvereinbarkeit des obersten Kirchenamts mit den versteckten Gefühlen einer liebenden Frau fehlte. Dabei ließ Anna Vita das Publikum entscheidende Episoden ihrer Hauptprotagonistin (ihr Überleben inmitten eines Normannengemetzels oder ihre Erfolge als Heilerin) nur andeutungsweise erleben. Aus eben dieser Idee von Abwesenheit aber (be)zieht dieses Tanzstück seine Stärke.
Auch bei der Ausstattung (Sandra Dehler) wurde bewusst auf dekorative Elemente verzichtet. Man entschied sich stattdessen für wenige, stets in die Choreographie einbezogene Requisiten (Tische, Gefäße und natürlich immer wieder Bücher) und ein dynamisch-mobiles Einheitsambiente aus schräg in den schwarzen Raum hineinragenden Streben. Ein visuell unmissverständliches Konstrukt, das je nach Ausrichtung und Lage einerseits die über Johanna hereinbrechenden Gefahren, andererseits die entweder beklemmenden oder schützenden Orte auf ihrem Weg symbolisiert. Für die ansprechende Farbgebung der Kostüme wiederum zog das Team die lithurgische, Gesinnungen betonende Farblehre hinzu.
Trumpf der Produktion: Anna Vitas allein schon durch Personenkonstellationen und Blickwechsel aussagekräftige Interpreten. Vom ersten Moment an bündeln die Tänzer die Aufmerksamkeit der Zuschauer in ihren anmutigen oder rüden, verzweifelt zu Boden klappenden oder fröhlich durch in die Luft springenden Bewegungen. Den choreographisch adrett in Linien oder über zwei Bänke hinweg arrangierten Gestenspielen der Mönche zuzusehen, macht Freude. Keines der gezeigten Gefühle der Figuren, die im Erkennen plötzlich erstarren, lässt einen kalt. Jubel für das neue Werk – und ein Lob auf die schlagkräftige Einfachheit.