Elektronische Akkorde, Bässe und Percussion am Beginn. Vier mannweibliche Paare, die sich im Nachtschwarz der Bühne aneinander reiben, verzehren, berühren – und danach zu einem einzigen Atomklumpen verschmelzen. Sind das Figurenprojektionen Eduards, seiner Frau Charlotte, ihrer Nichte Ottilie und des Hauptmanns Otto? Dann wäre der lange Prolog auf die elektronischen Emanationen des Komponisten Thomas Duda eine Transformation von Goethes Text. Noch einmal unterbrechen später die vier Paare signifikant das „reale“ Spielgeschehen. Wie diese Menschenatome bewegen sich die vier neu findenden Leiber und Seelen der handelnden Figuren in der letzten gemeinsamen Nacht Eduards und Charlottes, in der beide in Gedanken schon beim neuen Wunschpartner sind – Charlotte beim Hauptmann, Eduard bei Ottilie. Das Kind aus dieser Vereinigung zu viert – ein kerngesunder Blondschopf wird im zweiten Teil hinter der Szene ertrinken und das Verhängnis seinen bösen Verlauf nehmen wie im Roman – trotz des Bemühens aller an diesem Liebesquadrat Beteiligten um Stärke, Respekt und Mitgefühl.
Die wesentlichen Momente des Romans finden sich in dieser Uraufführung, von Galguera und durch die klassizistischen Zeitkostüme von Darko Petrovic linear erzählt. Kammermusik von Franz Schubert (Band) begleitet die psychischen Brüche. Diese Musikauswahl verstärkt die Intensität des Kammerspiels, doch auch die Flächigkeit der Gesamtkonzeption, Es ist Schubert, der das Sehnen, Zähren und Wähnen der immer in formvollendeter Etikette und distinguierten Emotionen agierenden Hauptfiguren Galgueras spürbar aufreißt. Die Gruppenbilder der Kompanie bringen neben den intimen Szenen wenig Sinnstiftendes, Gesellschaftsszenen bleiben dekorative Genredarstellungen.
Die Umsetzung der Prosa in Tanz erreicht hier die Ausdrucksdichte des Textes nicht. Galguera verfährt sehr, vielleicht zu respektvoll. Das zeigt schon der Beginn mit den Goethes geschlechtliche Rollenmuster abbildenden Ehe-Harmonie Charlottes und Eduard. Die langsamen Bewegungen, Berührungen, die Hebung und die pantomimisch ausgedehnte Brieflektüre demonstrieren feingliedrig die erschöpfte Paargemeinschaft als Zustand, nicht als Entwicklung. Galgueras Paraphrasen lassen offen, wie und wann die Entfremdung den Figuren bewusst wird, worauf man bei der realistischen Grundhaltung des Abends doch wartet. Im jede Sekunde spürbaren Respekt illustriert Galguera und scheut die psychologisch-artistische Transformation. Linear folgt er den Situationen des Romans, die ihren symbolischen Überbau verlieren – und damit ihre Prägnanz. Und – auch das liegt auch an der Goethe-Devotion des Produktionsteams – die vier Figuren erhalten nicht jene ebenbürtige Gewichtigkeit, die für die Spannungsbalance dieser „realistischen“ Wiedergabe notwendig wäre: Der Hauptmann Otto hat zu Beginn seinen stärksten Auftritt, verschwindet dann als Figur immer mehr. Seine parallelen Bewegungsfolgen mit Eduard bleiben der einzige energische Moment, was Leander Rebholz im weiteren Verlauf nicht ausgleichen kann. Die Charakterunterschiede sind tänzerisch nicht herausgemeißelt. Die folgenden Pas de trois mit Blicken und sanften Berührungen haben dann doch gewinnende Intensität, die immer dann porös wird, wenn direkte Handlung, aber nicht der Gehalt des Romans in tänzerische Bewegung umgegossen wird.
Die bei Goethe mit den „männlichen“ Eigenschaften wie Vernunft begabte Charlotte unterscheidet sich im Ballett wenig vom jüngeren Gegenentwurf Ottilie. Anastasia Gavrilenkova verändert den Charakter Charlottes – das ist legitim – zur stillen Kämpferin. Lou Beyne geht nach dem Tod des von ihr im falschen Moment unbeachteten Kindes auf die Spitzen – als einzige, was den durchlässig-spirituellen Charakter von Goethes Ottilie mit dem Mitteln der Tanzikonographie repräsentiert: Ottilie – die im Roman gläsern Spirituelle – entschwebt. Weitere vergleichbare Feinheiten gehen in der Ebenmäßigkeit des Erzähltempos möglicherweise unbemerkt vorbei.
Die Selbsterkenntnis Eduard in seiner Todesstunde gerät am Ende knapp, auch weil die Choreografie immer genau der Periodik der ausgewählten Schubert-Werke folgt und sich damit die dramaturgische Gewichtung verschiebt – vom Emotiven zum Formalen. Das ist besonders schwierig für Adrián Román Ventura, der als Eduard virilen Charme zeigt, aber wenig Möglichkeit hat, die literarische Figur des sensiblen und von Goethe mit androgynen Wesenszügen bedachten Mannes zum in der Erinnerung haftenden Protagonisten zu entwickeln.
Entzweiungen, Findungen und Unglücksfälle ereignen sich auf fast leerer Bühne (Juan León) mit grüner Ottomane. Videosequenzen und Projektionen auf verschiedenen Flächen zeigen sich langsam drehende Wasserreflexe. Projektionen, mit Assoziationen an Skizzen chemischer Prozesse hält Jacopo Castellano seine Videos in Fluss. Das 18. Jahrhundert, das der Menschen-Maschine eine mechanische Funktionsweise zuordnete, steht hier das Menschenbild des frühen 21. Jahrhunderts gegenüber, das den Menschen im Räderwerk zunehmend schwer beeinflussbarer Prozesse sieht. An diesen Punkten hätte Galguera wirklich alle Möglichkeiten gehabt, ganz anders einzuhaken in der Dringlichkeit seiner Entscheidung für „Die Wahlverwandtschaften“.
Im Publikum hatten sich einige den Roman noch für die Uraufführung vorgenommen und alles verstanden. Erfreuen konnte man sich an den blitzsauberen Bewegungsfolgen der bestens aufgestellten Kompanie. Für „Die Wahlverwandtschaften“ sind vereinfachende Bewegungsinhalte und Gruppierungen aber zu wenig. Es wurde ein schöner Ballettabend, mehr nicht.