Alle genannten Produktionen gelten heute – natürlich aus sehr unterschiedlichen Gründen – als Referenz-Inszenierungen. Dass auch Jette Steckels Inszenierung einen solchen Kultstatus erreichen wird, ist nicht zu befürchten. Das liegt aber weniger an ihrer grundsätzlichen Herangehensweise, umso mehr aber an einem erstaunlichen Mangel an interpretatorischer Gedankenklarheit und musiktheatralem Handwerk. Diese Defizite zeigen sich vor allem dort, wo sich die Inszenierung mal nicht hinter den Showeffekten der LED-Schnürenvorhänge verstecken kann, mit denen Florian Lösche (Bühne), Pauline Hüners, (Kostüme), Paulus Vogt (Licht) sowie Alexander Bunge und sein Team EINS[23].TV die Bühne in ein labyrinthisches Lichtermeer verwandeln.
Anfangs erleidet zum mäßigen Schrecken des Publikums ein alter Herr in der ersten Reihe einen Zusammenbruch. Als ihn die Sanitäter statt auf die Intensivstation auf die Bühne expedieren, wo er – ein tolles Bild! – dem Licht am Ende eines wabernden Wolkentunnels zustrebt, ist der Regieeinfall-Verdacht bestätigt. Nach den Feuer- und Wasserprüfungen wiederholt sich das Tunnelbild: Wir wissen nun, dass der Greis Tamino heißt und in den letzten Stunden sein ganzes Leben als Nahtod-Flashback noch einmal erlebt hat. Nach dieser Läuterung darf er nun seine Pamina mit ins Licht nehmen. Und hier, wo ja Mozarts Oper auf eine etwas irritierende Weise bereits nach Finale klingt, könnte Jette Steckels Flashback-Geschichte dann auch sehr gut zu Ende sein. Dummerweise hat Mozart aber einfach weiterkomponiert: Papageno findet seine Papagena, der letzte Anschlag der Nachtschattengestalten im Gefolge der Königin der Nacht scheitert, strahlend geht die Sonne der Aufklärung auf. Was das alles soll, lässt Jette Steckel aber weitgehend im Dunkeln, es wird nur mehr dekorativ abgearbeitet. Selbst das Flashback-Thema geriet zuvor rasch in Vergessenheit, nachdem es anfangs eigentlich ganz hübsch installiert worden war mit einer sehr originellen Begegnung zwischen Tamino und Papageno als kleinen Kindern, die dann immer älter wurden. Am wirklichen Ende aber taucht Tamino dann doch noch mal als Greis in der ersten Parkettreihe auf. Aber auch das bleibt ein rein äußerlicher gesetzter Einfall.
Gerade in dieser Hinsicht ist der Vergleich mit Freyers Inszenierung aufschlussreich. Denn auch er hatte ja damals die Zuschauer am Ende mit der Aufdeckung überrascht, dass alles nur ein Traum des Youngsters Tamino gewesen war. Nur ist so ein Teenager-Traum, anders als ein letaler Flashback, eben nicht fokussiert auf das einzelne eigene Leben. So ein Teenager träumt von schrecklichen Märchen und schönen Mädels, bestandenen Abenteuern und besten Freunden – also konnte Freyer die ganze Welt der „Zauberflöte“ in seiner Traum-Nussschale einfangen. Jette Steckel dagegen bringt kaum etwas unter. Sie rafft und strafft, es gibt keine Schlange und wenig Dialoge. Und die Lightshow mit den galaktisch tiefen Lichtfeldern und bewegten Konturen der singenden Gesichter von Sarastro und der Königin der Nacht (die beiden Sänger selbst singen vom Graben aus) – sie unterhält eine Stunde lang bestens. Der Abend dauert allerdings (mit Pause) drei Stunden. Zeit genug, darüber zu staunen, wie altbacken die Operngestik ist, derer sich Jette Steckel in ihrer Personenführung jenseits der Lightshow bedient.
Die Zeit wird einem auch deshalb lang, weil die Sache auch musikalisch ein ziemlicher Reinfall ist. Liegt es daran, dass das Gros des Staatsopern-Orchesters mit seinem GMD Kent Nagano gerade auf Südamerika-Tournee ist, was ja zum Saisonauftakt schon eine bemerkenswerte Geste des GMDs gegenüber dem eigenen Haus ist? Jedenfalls klingt das Orchester matt, spielt die notorisch heiklen Mozart-Texturen wackelig, die Musik leiert impulslos auf der Stelle. Das liegt natürlich auch an dem Dirigenten Jean-Christophe Spinosi, der als Alte-Musik-Fachmann gilt, es aber leider nicht fertigbringt, die musikalischen Abläufe sauber zu koordinieren und der Musik Leben einzuhauchen.
Enttäuschend auch die Sängerbesetzung. Christina Gansch ist der Pamina-Partie kräftemäßig zwar bestens gewachsen. Aber ihrer Stimme fehlt der schlanke, klare Fokus, die Leuchtkraft der kantablen Linie, auch die interpretatorische Finesse, die Impulsivität der Attacke. Vitale, bewegende Mozart-Idiomatik hört man an diesem Abend selten. Bemerkenswert in dieser Hinsicht war lediglich Maria Chabounias mädchenhaft klare Papagena. Dovlet Nurgeldiyev ist immerhin ein Tamino mit klarem, virilem Timbre, Jonathan McGovern ein kerniger und gut schauspielernder Papageno, Andrea Mastroni ein präsenter, rabenschwarzer Sarastro, dem allerdings die sonore Herzenswärme vollkommen abgeht. Bei Christina Poulitsi besteht die Partie der Königin vor allem aus ein paar allerdings mit grandioser Impulsivität herausgeschleuderten Koloratur-Staccati. Der ganze nicht ganz unbedeutende Rest verschwimmt viel zu oft in schlecht fokussiertem Legato und einem weitgehend artikulationsfreiem Gewaber. Die drei Damen finden den ganzen Abend lang nicht zusammen, Priester und Geharnischte suchen ebenfalls noch nach ihrer Staatsopern-Form.
Oder gelten vielleicht die hier angelegten Maßstäbe der Kritik schon längst nicht mehr? Nachdem Besucher der Premiere von herzhaften Buhs und Zuschauerverlusten bereits nach der Pause zu berichten wussten, wurde die von mir besuchte zweite Vorstellung nicht nur klaglos, sondern geradezu begeistert hingenommen, Dirigent und Sänger ernteten enthusiastischen Jubel. Eigentlich müsste ich als Kritiker den Begeisterten ja jetzt eine ziemlich weitgehende Ahnungslosigkeit in Bezug auf die kunstgerechte Mozart-Interpretation unterstellen. Oder aber mir selbst eingestehen, dass die Maßstäbe meines Urteils allmählich außer Mode kommen. Publikumsbegeisterung ist im Theater ein hohes Gut. Vielleicht stört so ein Kritiker da nur?