Ganz real ist durch den dokumentarischen Charakter des Stücks das zunächst ganz diametrale Gespräch. Der Flüchtling wird konfrontiert mit Vorurteilen, man redet geradewegs aneinander vorbei: Der eine berichtet von Verbrechen in seinem Heimatland, die anderen antworten mit Regeln und Gesetzen aus ihrem Heimatland. Optisch wirken Kontraste: Der Flüchtling (Sulaimon spielt ihn ausdrucksstark und mit starker Körperlichkeit) trägt einen Anzug als Symbol des Erfolgs – die Flucht ist überstanden – und zugleich eine Plastiktüte als unfreiwilliges Kennzeichen und Symbol für den aufgegebenen Besitz. Die Kostüme der Chormitglieder fügen sich optisch dagegen ganz ins Bild des Publikums (Kostüme: Petra Wilke) – ein Querschnitt sozusagen: Otto, der Normale? Was auch immer das ist. Das eigene, das Fremde, die, wir. Diese Kategorien und vermeintlichen Gruppenzugehörigkeiten werden durch den Text, aber auch durch Matthias Gehrts Inszenierung infrage gestellt und allgegenwärtige Vorurteile präzise nachgezeichnet. Während die vermeintlichen Sänger sich zunächst im Zuschauerraum verteilt haben und von dort zum Flüchtling sprechen, ihn belehren und korrigieren, betreten sie nach und nach die Bühne – und zwar immer dann, wenn der Text verbindende Elemente hervorbringt. Wenn ein Deutscher und ein Geflüchteter sich im Freibad verlieben, zum Beispiel. Zwischendurch löst sich auch der Hausmeister – tragend verkörpert vom Intendanten Michael Grosse –, aus der dekorativen Präsenz und interviewt den Flüchtling zu den Schrecken seiner Erlebnisse. Perspektivwechsel sind gefragt.
Wie aus Trotz stimmt der Chor immer wieder das Lied an, das vom Fortgehen erzählt – aber eben auch von der Heimkehr: Muss i denn… Sich an ein Volkslied zu klammern wie an die verquere Idee einer deutschen Identität, das wäre eine einseitige Lösung für das Integrationsproblem. Schließlich wird uns allen die Offenheit abverlangt, Traditionen infrage zu stellen. Was also tun? Am Ende zitieren die Chormitglieder auf der Bühne Bruchstücke der Geschichte des Flüchtlings. Sie haben doch zugehört. Wenn daraufhin Jubril Sulaimon, im Publikum stehend, „Kein schöner Land“ zu singen beginnt und immer mehr Zuschauer einstimmen, ist das ein wahrer Gänsehautmoment – weil er die Möglichkeit offeriert, empathisch zu sein und den Dialog zu suchen.