Foto: Ensembleszene aus Tschechows "Drei Schwestern" in Erlangen © Jochen Quast
Text:Dieter Stoll, am 8. April 2016
Dem sinnstiftenden Spielzeit-Motto, das am Erlanger Theater zu Beginn der Saison ausgerufen wurde, kann keine Produktion entkommen: Alles „Heimat“. Wenn es nicht schon an vorderster Front im jeweiligen Projekt-Titel auftaucht, etwa in „Sweet Home Europa“ oder „Heimat Erlangen“ oder „heimat.com“, weist die Unterzeile die Gedanken der Zuschauer in die richtige Richtung. Anton Tschechows „Drei Schwestern“, von der gebürtigen Ukrainerin Elina Finkel jetzt neu übersetzt und inszeniert, ist deshalb am Markgrafentheater eine „Heimatverklärung in vier Akten“. Was sicher nicht falsch katalogisiert ist, wobei die entscheidende Frage sowieso in der Trennung der Standortbestimmungen von „Heimat“ und „Verklärung“, der Reibung von Traum und Realität liegt. Wie in jeder anderen Tschechow-Interpretation auch.
Die ersten Signale latenter Trostlosigkeit sind an den Eisernen Vorhang des Theaters geklemmt: Die älteste der „Drei Schwestern“, die da weit draußen in der Provinz ihr Sehnsuchtsbild vom wahren Leben hätscheln und alle Erlösungsgedanken „nach Moskau, nach Moskau“ lenken, kauert dort lustlos unter ein paar schwebenden Luftballons der eigenen Geburtstagsfeier entgegen. Erst wehrt sie die Aufforderungen zur Familienparty ab, dann landet sie doch mit der Selbstdisziplin der halbwegs höheren Tochter mittendrin im Spalier der bekannten Gesichter samt zugehöriger Grimassen. Wenn sich die erste Begrenzung der Bühne ratternd hebt, wartet wenige Meter dahinter gleich die nächste wie eine überdimensionale Schiefertafel. Ein paar Stühle, Sessel, Lampen stehen davor als Grundausstattung bereit (der unvermeidliche Samowar, von Stanislawski bis Peter Stein wie ein Tabernakel ins schiefe Familienglück betoniert, wird mit spitzen Fingern als Sondermüll beiseite geschafft), aber der Lebensraum wächst nicht wirklich. Die atmosphärisch dichte Szenerie von Doey Lüthi, die manchmal sogar in absoluter Dunkelheit versinkt, geht Schicht für Schicht, Szene für Szene, tiefer in den Bühnenraum. Die Grundsituation der Beklemmung bleibt unveränderlich, die Vorzugs-Haltung der Akteure ist nicht nur metaphorisch „mit dem Rücken zur Wand“. Zu Beginn wird das fast zum Sitzstreik gegen die eigenen Visionen, am Ende ist es ein Akt der lapidaren Selbstauflösung.
Regisseurin Elina Finkel, die als Tschechow-Übersetzerin die Annäherung der kantigen deutschen Sprache an die melodiösere russische proklamierte, zeigt eine dunkle Welt voller blitzender Illusionen. Die erste, grellste ist die Explosion von scheinbarer Vitalität unter der Disco-Kugel, wenn für Minuten die Party rockt und die Runde der Gäste sich aufgebäumt in eine Sonderration „Lebenslust“ reckt. Sie hat mit dem dann folgenden Blick in die Wirklichkeit nichts zu tun. Da tauchen die Gestalten immer wieder wie auf einem Rastplatz ihrer Alltags-Flucht auf, brüten mit lauwarmen Worten auf verpassten Chancen und schwadronieren hochstaplerisch über das ferne große Glück, obwohl sie schon mit dem nahen kleinen nicht zurecht kommen. Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst: Das Salon-Philosophieren wird mit gackerndem Spott begleitet und wo das Wolfsgeheul als Party-Charade die Melancholie nicht bannen kann, bleibt immer noch der Wodka als Energiespender.
Die Erlanger Tschechow-Inszenierung lässt in ihrer eigenartigen Mixtur aus Komik und Katastrophe keine Sentimentalitäten zu, nicht mal Mitgefühl. Es gibt weder Schuldzuweisungen noch Absolutionen für die Versager-Vollversammlung: Schaut her, so ist es! Damit die Spannung zu halten, ist ein latentes Problem der Aufführung. Elina Finkel versucht es mit Musik, drückt zwei Herren hilfreiche Gitarren in die Hand, lässt den Baron am Klavier klimpernd hymnisch singen und eine der Schwestern ausgiebig das absolut moskauferne „O sole mio“ trällern – und einmal treibt sie die ganze Männerwelt zum Single-Totentanz als hätte Tadeusz Kantor kurz reingeschaut. Harte Szenenschnitte stellen Stimmungswechsel so radikal gegeneinander, dass nicht alle Schauspieler jederzeit folgen können. Sie behelfen sich im Zweifelsfall mit hübschen Versager-Miniaturen.
Auf die Frauen kommt es bei diesem Stück an, und auf sie kann sich die Regisseurin verlassen: Linda Foerster (Olga), Violetta Zupancic (Mascha) und Vidina Popov (Irina) sind die „Drei Schwestern“ in denkbar variabelster Form von praktizierter Unglückseligkeit. Sie sind ermattet vom Leben, müde vom Träumen, aber man sieht den verlöschenden Funken von Idealismus in ihren Blicken. Bedrohlich das barsche Gegenbild der machtpragmatischen Schwägerin Natascha, das Janina Zschernig aufbaut. Ihre Ansprüche ans Leben sind klar geregelt, sie will nicht „nach Moskau“, sie schafft ihr eigenes Reich als lebenslänglichen Kindergeburtstag, platt aber beherrschbar.
Am Ende mag Elina Finkel nicht mehr an den trotzigen Rest, die falsche Karriere der einen und den Aufbruch der anderen Schwester glauben. Sie stellt die Drei wie schwarze Witwen an die Rampe, lässt die Geschichte verlöschen und dem Zuschauer bleibt nichts anders übrig als die „Heimatverklärung“ weiterzudenken. Das Premierenpublikum schien bereit dazu und applaudierte ausgiebig.