Foto: Im Paradies? Szene aus Rameaus "Les Indes galantes" © Ludwig Olah
Text:Dieter Stoll, am 2. April 2016
Der erste Blick bei dieser Aufführung fällt auf grünen Rasenteppich und blühende Landschaften. Er macht gleich klar, dass es das Paradies mit jeder Landesgartenschau aufnehmen kann, was aber längst nicht genug Erkenntnis am Apfelbaum wäre. Unter Anleitung der zuständigen Jugend-Göttin für freie Liebe, Sport und Gedöns bricht, ab hier wird es theologisch anfechtbar, statt des biblisch überlieferten Paares mit Feigenblatt eine ganze Duo-Compagnie splitternackt aus den Büschen und lässt zur überirdischen Gruppengymnastik alles hüpfen, was der liebe Gott geschaffen hat. Aber die konkurrierende Kriegsgöttin lockt das FKK-Jungvolk mit dem Versprechen von Ruhm und Ehre (die Unschuld wird schnell verdorben durch Krawatte und Maschinengewehr), was zur Abenteuer-Weltreise mit der Fluglinie „Eden-Voyage“ führt. Der erste Akt hat die Überschrift „Der großzügige Türke“, womit dem deutschen Botschafter in Ankara ein freier Abend gesichert wäre. Erst drei Stunden später wird nach Zwischenlandungen in Peru, Persien und Nordamerika und gesammelten Erfahrungen über die komische Seite am Bösen in der Welt die Bilanz gezogen und eingecheckt zum Charterflug zurück zur Natur.
Es ist so ziemlich alles „extraordinär“ an dieser Nürnberger Premiere „Les Indes Galantes“: Vom Komponisten Jean-Philippe Rameau angefangen, der auf unseren Bühnen allenfalls ein seitliches Ehrenplätzchen hat, über das am Raritäten-Karussell noch etwas weiter hinten kreisende Genre der „Ballett-Oper“ mit gleichberechtigtem Einsatz von Tänzern und Sängern, bis zur Spezialisten-Mediation am Pult. Dort musste der Dirigent Paul Agnew, auch als Sänger erfahren im besonderen Fach, der ganz anders trainierten Staatsphilharmonie die Stilsicherheit im französischen Barock per Schnellkurs verdeutlichen – und hat die Vermittlung der spitzfindigen Rhythmik und der ungewohnt federnden Dynamik bemerkenswert gut geschafft. Dazu die allzeit zur Heiterkeit bereite Laura Scozzi, eine seit Jahren von der Choreographie ins satirisch unterfütterte Comedy-Großformat drängende Regisseurin, die von Berlioz bis Mozart noch jeden Musikanten mit der gleichen Art von Scherzkeksen umsorgte und bislang bei Rossinis „Reise nach Reims“ am besten damit aufgestellt war.
Um eine Reise geht es also auch in diesem weithin unbekannten, immerhin für den Festspiel-Sommer 2016 sogar von der Münchner Staatsoper angekündigten Werk, ums Auslüften der Phantasie in ferner Exotik oder was man anno 1735 dafür hielt. Für Laura Scozzis Inszenierung, die vor dieser Deutschland-Premiere schon in Toulouse und Bordeaux ihre Heimspiele hatte, ist der Umgang mit der Historie nachrangig. Sie findet Gegenwart, wohin die Liebesschwüre samt Affärengepäck auch fliegen mögen. Das Format „Ballett-Heroique“ sträubt sich nicht dagegen, denn zwischen den reizvollen Gesangsnummern (von Solisten, Chor und Orchester im Laufe des Abends immer entspannter bewältigt) öffnet das weite Feld klingender Leerstellen für Tanz-Einlagen jede denkbare Möglichkeit – und, warum auch nicht, sogar die Freiheit der Umwidmung zum Karikaturen-Soundtrack. Der melancholische Duktus der Musik wirkt dabei wie ein Kontrastmittel zu den großzügig gestreuten Szenen-Pointen, die mit der Souveränität von sehr eigenem Humor weder Klamauk noch Kitsch scheuen. Die kulissenschiebende, lüftlmalerische Ausstattung von Natacha Le Guen de Kerneizon bestätigt das jederzeit.
Das innere Laufwerk der Gag-Fabrikation wird im stets von außen ansetzenden Scozzi-System, das Welten und Jahrhunderte einfach durch Behauptung überspringt, von den drei in Stellung gebrachten „Amoretten“ (Cécile Theil-Mourad, Fanny Rouyé und Laetitia Viallet als knatterkomische Global-Players) betrieben, die als Amours Informanten die universale Entwicklung der Love-Storys begutachten. Weil sie bei der Sicherheitskontrolle am Eden-Airport ihre professionellen Liebes-Pfeile abgeben mussten, reisen sie ersatzweise mit „I love you“-Shirts in der Touristenklasse den Konfliktherden unserer Zeit und den dazwischen liegenden Shoppingmeilen entgegen. Die Regie lässt da wenig aus: In der Türkei retten sie Flüchtlinge aus Spielzeug-Booten, in Peru bestaunen sie buchstäblich entflammte Revolutionäre, in Persien hängen sie Gebetsteppiche zum Trocknen auf und sehen Bikini-Schönheiten (sind das etwa die berühmten Jungfrauen oder ist es die neue Ernte für den Harem?) vom Laufsteg für die Muslim-Mafia in aller Nabelfreiheit unter der Burka verschwinden. Die Umwelt geht in Nordamerika zu Bruch, damit die Wirtschaft boomen kann, und die nahtlose Weiterführung dieser Szene in die irrwitzige Welt der Werbung nimmt beiläufig die Emanzipationsfrage mit. Niemand wird behaupten können, dass Laura Scozzi zu wenig eingefallen ist. Sie hat halt nicht sortiert und lässt dabei, wenn der Jux ins Ernsthafte schwappt, manchmal geradezu provokativ offen, ob sie mit eigenen Vorurteilen spielt oder die Deutungshoheit anderer veräppelt. Gewiss ist das Teil ihrer Irritationskraft, die manchem Zuschauer gleichzeitig Gelächter und Kopfschütteln abnötigt und dem breiten Späßchen neben viel vergnügtem Beifall letztlich auch die höheren Weihen des Buh-Rufs sichert.
Die Sänger, von denen sich zur Premiere gleich zwei Protagonisten indisponiert melden ließen, wurden einhellig gefeiert: Besonders die feinfühlig operierenden Sopranistinnen Michaela Maria Mayer, Hrachuhí Bassénz und Csilla Csovari mit dem etwas angestrengter wirkenden Tenor Martin Platz und dem rahmensprengend röhrenden Bassisten Florian Spiess. Bei der finalen Rückkehr ins Paradies legten die jugendlichen TänzerInnen wieder ab, doch von nun an kann die Freieheitn wohl grenzenlos sein – es schlendert auch ein ergrautes Seniorenpaar versonnen textilfrei durchs Grüne und eine Hochschwangere folgt in gleicher Grundausstattung. Beim Happy-End wird in der Oper eben gar nichts mehr verschleiert.