Foto: In der Szene Felix Goeser (Albert), Edgar Eckert (Konrad) und Judith Hofmann (Bettina) © Arno Declair
Text:Reinhard Wengierek, am 26. Oktober 2015
Es fängt ziemlich kabarettistisch an: Ein bloß mäßig erfolgreiches, erstaunlicherweise trotzdem ganz gut verdienendes Mittelstandsehepaar mittleren Alters mit Vorschulkind im Berliner Kreativen-Milieu: Albert (Felix Goeser als Weichei in rosa Klamotten) schreibt seit Jahren Bücher ähnlichen Inhalts unter Titeln wie „Die Zukunft der Vergangenheit“, „Vernichtung“, „Diktatur oder Tod“; Bettina (Judith Hofmann als scharfzüngige Zicke) inszeniert Filme, die sich nur schwer verkaufen, weil kaum einer sie sehen mag. Es ist kurz vor Weihnachten, Bettinas Mutter Corinna (Jutta Wachowiak als taffe Alte) kommt zu Besuch und geht der Kleinfamilie gehörig auf die Nerven, während zwischen allen der ewig klamme, mithin wenig reüssierende Maler und weinerliche Familienfreund Konrad geistert (Edgar Eckert). Sein abstraktes Großformat „Der Kampf“ ziert die hohe Zimmerwand in der weiträumigen Altbauwohnung, cool dekoriert mit Möbel-Mix aus Ikea und Biedermeier und, großbürgerliches Accessoire, mit einem Konzertflügel. Soweit der durchaus vornehme Rahmen, in dem es prompt ganz unvornehm zur Sache geht: Nämlich mit einer ganz und gar gewöhnlichen abendlichen Schlammschlacht, in der jeder jeden beleidigt und erniedrigt. Wutexplosionen und Hassausbrüche wechseln mit heulendem Selbstmitleid und hektischem Aneinander-vorbei-Quatschen, befeuert von teurem, dennoch reichlich fließendem Rotwein. Das haben wir gefühlt tausend Mal schon erlebt nicht nur in diesem Theater; freilich oft weitaus spannender, bösartig zugespitzter, zynischer und abgründiger (sogar in Schimmelpfennig-Stücken unter Regie von selig Jürgen Gosch). Diesmal also das komisch-kabarettistische, arg klischeehafte familiär-häusliche Gezänk auf die ganz und gar altbackene Art.
Ort der von Regisseur Jan Bosse flott arrangierten, mit einschlägigen Turbulenzen hübsch garnierten Veranstaltung ist ein riesiger, für wirkliche Kommunikation wenig tauglicher Wohnzimmertisch (dafür wird gern auf ihm herum gekraxelt und gängiger Schimpf abgelassen). Er beherrscht die Mitte der ansonsten leeren Bühne (Stéphane Laimé). Also kein Ikea-Biedermeier-Interieur, das wird bloß hergesagt. Vielmehr ein schwarzer Großraum, begrenzt von bühnenhimmelhohen Wänden aus dicht gespannten, aber dennoch durchlässigen Gummiseilen. Wir kapieren: Hier herrscht Abstraktion, hier hallt Verallgemeinerung, hier gähnt Finsternis stellvertretend für jeden Weltenort. Und die solide situierte, ostentativ linksliberal gefärbte Kleinbürgerwelt, in der keiner jemals konservativ gewählt hat, ist überhaupt nicht solide, sondern brüchig. Von innen heraus, das sowieso; aber eben auch von außen. Und das nicht nur durch die geheimen Liebschaften der Eheleute (ja diese Üblichkeit natürlich auch noch), sondern vor allem durch Rudolph Mayer, den Bernd Stempel unheimlich bieder als graue, schließlich grauenvolle Eminenz und Überraschungsgast des Abends funkelnd vorführt.
Dieser seltsame, höchst manierliche, diskret exotisch erscheinende ältere Herr in Schlips und Bügelfalte, Arzt von Beruf, Deutscher und aus Paraguay kommend, ist eine Zufallsbekanntschaft von Großmutter Corinna, die sie unterwegs auf ihrer Reise zum Weihnachtsbesuch bei Albert und Bettina im Intercity aufgabelte. Und Mayer fasziniert zunehmend nicht nur Corinna. Er plaudert gepflegt über altdeutsche Vornamen, über so schöne, doch leider „verlorene“ deutsche Vokabeln wie „ritterlich“, „anständig“, „stolz“, über Kunst und ihre Aufgabe, „ins Licht zu führen“. Sonderlich eloquent vermag er Musik in Worte zu fassen (tolles Solo für Stempel). Und dann spielt er auch noch perfekt Chopin und Bach und klimpert ein bisschen Wagner („Tristan“) auf dem ansonsten fatal stummen Konzertflügel. So sind denn alle hingerissen, bis auf den hypochondrisch wehleidigen, tablettensüchtigen Albert, der zunehmend „Druck auf den Brustkorb“ bekommt und ahnt: „Mit Mayer stimmt was nicht. Wer weiß, wen man da ins Haus gelassen hat…“
Auch unsereins im Parkett schwant längst: Mit diesem scheinbar ach so liebenswürdigen und kultivierten Biedermann aus Südamerika kam etwas offensichtlich extrem Fremdes, Böses ins Haus, tropft etwas in die Köpfe und Seelen dieser vorweihnachtlichen Gesellschaft, von dem sie meint, ansonsten nichts damit zu tun zu haben. Es ist das hier verführerisch süß schmeckende Gift faschistoider Ideologie, die vom Schönen und Guten schwärmt, vom sauberen, wohl geordneten Garten, der von Blattläusen gesäubert sein müsse, von der Vermischung mit Unkraut. Denn immer und überall müssten Ordnung und Reinheit über dreckiges Chaos triumphieren, womit selbstredend unser Liberal-Libertinäres, Kränkliches, unsere Glaubens- und Orientierungslosigkeit gemeint ist, dem der Untergang drohe. So wie in der Natur das Niedere und Schwächere dem Höheren, Gesunden und Stärkeren weichen müsse.
Damit ist in Roland Schimmelpfennigs Konversationsstück „Wintersonnenwende“ endlich heraus, was im schwarz abstrahierten Bühnenbild schon angedroht wurde: am Ende Schlimmes, eben kein Kabarett. Doch zuvor gibt es genau das in langen 100 Minuten. Quasi als grobkörniges Vorspiel zum subtil gedachten Menetekel: Nämlich die notorische Anfälligkeit der total demokratisierten, total freiheitlich sich dünkenden, unentwegt mit sich hadernden und letztlich ziellosen Bürgerlichkeit (und nicht nur der!) fürs Totalitäre mit seinen klaren Ansagen. Diese werden in der letzten halben Stunde aberwitzig illustriert durch Rudolph Mayers geschliffene Hardcore-Rederei gegen das Ungeziefer, das sich zersetzend einniste im abendländisch Hehren und Edlen, wofür die westlich individualistische, jammerlappenhafte Verweichlichung den Nährboden liefere; wobei dem immer strammer werdenden Bieder-Mayer unversehens schon mal das Wort „Saujude“ von den Lippen flutscht. Zum absurden Finale vereint sich die verzankte Sippe zu einer Art Abendmahl, das Mayer austeilt. Alle schlucken ein Glas irgendwie geweihtes Wasser als „Destillat des Lebens, als Vermächtnis und Auftrag…“ Auch Albert schluckt, dessen neues Buch „Weihnachten in Auschwitz“ just in Arbeit ist.
Der Autor, durchaus mutig und problembewusst, kapert ein nicht einfaches, aber ewig virulentes Thema: Der Hang des einzelnen zur Freiheit sowie Ein- und Unterordnung; seine Kühnheit und zugleich Ängstlichkeit. Bei Schönwetter mag sich das austarieren, bei Schlechtwetter kippt es schnell – Wintersonnenwenden… Eine kriegerische Angst- und Frust-Kompanie wird da unversehens zur erlösungssüchtigen Fascho-Gemeinde. Ja wirklich, ein großes Thema, aber doch nur ein hölzernes Thesenstück. Noch dazu in Schimmelpfennigs nervender Collage- und Verfremdungstechnik: Immerzu treten die Figuren heraus aus ihren Rollen, um sich selbst oder gegenseitig zu kommentieren. Und obendrein die aktionistisch witzelnde Regie-Routine, vom Hochleistungsensemble immerhin intensiv durchexerziert. Und als Schlusspointe, auch das noch, ein Kitschbild mit Kind und Weihnachtskerze.
Warum nur fanden weder Regie noch Dramaturgie den Mut, aus der wenig originellen, dafür unendlich breit gewalzten sozialpsychologischen Vorlage eine so straffe wie ätzende Polit-Satire zu keltern? Eben alles in schnellen 90 Minuten Kabarett, wie wir anfangs dachten.