Foto: "Hamlet" am Staatstheater Karlsruhe. Sascha Tuxhorn, Ronald Funke © Felix Grünschloß
Text:Elisabeth Maier, am 4. Oktober 2015
Auf einer riesigen Hüpfburg hält der Dänenprinz Hamlet seiner Familie den Spiegel vor. Der ungarische Regisseur Csaba Polgár dreht die Rollen in seiner Inszenierung des Shakespeare-Klassikers am Staatstheater Karlsruhe um. Eine kranke Seele hat hier nicht der junge Heißsporn, den Mutter und Onkel nach dem Tod seines Vaters in die Kinderrolle pressen. Es sind die anderen, die sich in ihren Lügengespinsten verstricken.
Ihre Falschheit entlarvt Sascha Tuxhorn, weil er die Widersprüchlichkeit des Titelhelden brilliant nach außen kehrt. Auf dem schmalen Grat zwischen Wahnsinn und Wahrheit balanciert der Schauspieler virtuos. Sich und das Publikum reißt er in ein Wechselbad der Gefühle. Brutal stößt er die liebeskranke Ophelia beiseite, um schon wenig später an seiner eigenen Sehnsucht nach Liebe zu zerbrechen. Tuxhorns kraftvolle Performance, die er mit der Gitarre wie ein Rockstar zelebriert, reißt Wunden auf.
Und das ist viel mehr als das Kopfkino eines jungen Wilden. So lenkt der der ungarische Regisseur Polgár, der 2013 das internationale Festival junger Regie in Karlsruhe mit seiner Inszenierung von Tankred Dorsts „Merlin“ eröffnete, den Blick auf die Krise in Europa. Darin liegt die Qualität der Regiearbeit, die nicht plakativ aktualisieren will. Nur das miefige Grenzkabuff, das Bühnenbildnerin Lili Izsák in die linke Bühnenhälfte gesetzt hat, weckt Assoziationen an eine Welt im Umbruch. Als vergilbte Schwarzweiß-Fotografie hängt da auch das Bild von Hamlets ermordetem Vater – das erinnert an die gestürzten Machthaber des Sozialismus. Popsongs und avantgardistische E-Musik mixt Tamás Matkó so dynamisch wie ein DJ.
Trotz dieses klugen Konzepts wirkt manches im Detail zu schroff und unfertig. Oft geht Polgár nicht tief genug. Ophelias innere Konflikte darf Marthe Lola Deutschmann nur bedingt ausleben. Annette Büschelberger als Hamlets heillos überforderte Mutter Gertrud überzeichnet die Falschheit ihrer Figur zu stark. Nicht immer erfassen die Schauspieler die Zerrissenheit der Figuren, wie das Luis Quintana als Ophelias verzweifelter Bruder Laertes tut. Als Geist der Vergangenheit setzt Ronald Funke Akzente. Zärtlich hält er als Wiedergänger des toten Vaters mit Hamlet Zwiesprache.
Die Theatersprache Polgárs ist geprägt von Bildern, die Horizonte öffnen. Er spürt in Shakespeares „Hamlet“ Menschen auf, denen ihre Lebenslügen entgleiten. Wenn der riesigen Hüpfburg die Luft ausgeht, ist das mehr als ein smarter Regiegag. Da fallen politische Wertesysteme in sich zusammen. Dass Schauspielchef Jan Linders nicht nur mit diesem Projekt die internationale Perspektive der Sparte zunehmend erweitert – mit „Love Hurts“ ist derzeit auch eine deutsch-israelische Koproduktion zu erleben – ist ein großer Gewinn.