Foto: "Model" von Richard Siegal © Ursula Kaufmann
Text:Bettina Weber, am 14. August 2015
Symmetrien zu durchbrechen, das ist das bestimmende und verbindende Merkmal von Richard Siegals Doppelabend „Model“, der im Rahmen der Ruhrtriennale im Salzlager der Zeche Zollverein seine Premiere feierte. „Model“ ist dabei eigentlich der Titel der zweiten Choreographie des Abends, als Vorspiel zeigt Siegal seine 2014 für das Ballet National de Marseille entstandene Kreation „Metric Dozen“, die er in der vergangenen Saison schon am Bayerischen Staatsballett gezeigt hat (siehe auch http://www.die-deutsche-buehne.de/Kritiken/Tanz/Richard+Siegal+Portrait+Richard+Siegal/Bestechende+Intensitaet). In beiden Produktionen wirken neben Solisten aus Siegals Künstlerkollektiv „The Bakery“ auch Tänzer des koproduzierenden Bayerisches Staatsballetts mit, die gemeinsam eine ausgesprochen ausdrucksstarke Gruppe bilden.
Knapp 25 Minuten lang pulsieren in „Metric Dozen“ wuchtige Basstöne durch die Halle, durchmessen die Tänzer in sich permanent neu formierenden und wieder auflösenden Geometrien die Bühne. Das Stichwort „Sog-Wirkung“ mag, zumal bei Richard Siegals Choreographien, etwas abgenutzt sein, doch es ist unbestritten die treffendste Beschreibung der bannartigen Anziehungskraft, die das betont physische Stück auf den Zuschauer entwickelt. Zu Beginn oft rückwärts marschierend lassen die Tänzer immer neue Linien in alle Richtungen entstehen, scheinbar parallele Strukturen, die von hinzu- und wieder in den Schatten des Bühnenrands heraustretenden Tänzern oder von antagonistischen, schmelzenden Bewegungen durchbrochen werden. Exaltierte Ausdrehungen der Hüften, stark nach hinten geschobene Schultern und das schnelle Marschieren auf den Fußballen wirken automatisiert, eine Formation stößt die nächste fließend an. Es wirkt, als wüteten die Tänzer in tranceartiger Manie. Keine Wiederholung ermüdet hier, keine Irritation wirkt unpassend.
Dass beide Produktionen nicht nur auf visueller, sondern auch auf akustischer Ebene ein packendes Erlebnis darstellen, liegt an den abstrakten, schwer basslastigen elektronischen Klangkompositionen von Lorenzo Bianchi Hoesch. Das nach der Pause uraufgeführte Stück „Model“ ist sowohl musikalisch als auch choreographisch keineswegs weniger beindruckend als „Metric Dozen“, allerdings deutlich bedrückender und beklemmender. Dantes „Inferno“, Sartres Drama „Geschlossene Gesellschaft“ waren Ausgangspunkte für Siegals Neukreation, deren Wirkung der Choreograph im Programmheft selbst als „viszeral“ beschreibt. In der Tat entwickelt der zweite Teil des Abends eine noch intensivere körperliche Wucht.
Wenn Geometrie noch eine Rolle spielt, dann ist es – ganz Dantes Höllenstruktur und der Idee der ewigen Verdammnis entsprechend – der Kreis, der zwischendurch in Licht und Bewegung zur Formationsstruktur wird. Ansonsten zieht sich die gezielte Nicht-Ordnung durch die äußerst düster konzeptionierten 40 Minuten Tanz. Klassische Ballettelemente werden zitiert und dekonstruiert, sanfte Pirouetten zeigt Siegal parallel zu dämonischen Verrenkungen. Zu beinahe dauerhaft eingesetztem Stroboskoplicht entstehen so infernalische Energien. Inmitten des Unheimlichen schimmert aber immer auch eine berührende Zartheit in den Bewegungen durch – vielleicht ist es der menschliche Körper, der sich erinnert oder nach Erlösung sehnt. Dann zeigt Siegal vergleichsweise konkret diabolischen Wahnsinn: Minutenlang schreit die an diesem Abend äußerst präsente Katharina Christl wie besessen zu einer unsichtbaren Macht, wälzt sich am Boden, während auf einer kleinen Leinwand auf englisch aus Jorge Luis Borges „Hölle, Himmel und Erde“ zitiert wird: „for the rejected an inferno, and for the elected paradise“. Was für einen die Hölle, ist den anderen das Paradies. Im Zentrum von „Model“ stehen also keine konkreten Höllenvisionen, im Fokus steht der Mensch, der sich gegen die Bestimmung aufbäumt, sich der Ewigkeit zu entziehen sucht. In hellen, an der Brust rippenartig durchschnittenen Shirts sind die Tänzer dementsprechend quasi als nackte Menschen gekleidet – ein schöner kostümbildnerischer Einfall (Alexandra Bertraut).
Richard Siegal hat ein schwergewichtiges, jedoch absolut sinnlich intensives und vielschichtiges Menschenporträt geschaffen. Jubelnder Beifall für beide Choreographien – wenngleich das Publikum nach dem zweiten Teil des Abends erst einmal hörbar durchschnaufen musste.