Foto: "Clavigo" bei den Salzburger Festspielen. Kathleen Morgeneyer (Beaumarchais), Moritz Grove (Carlos), Marcel Kohler (Marie Beaumarchais), Susanne Wolff (Clavigo), Franziska Machens (Buenco) © Salzburger Festspiele / Arno Declair
Text:Anne Fritsch, am 28. Juli 2015
Vor der Bühne bläht sich ein Vorhang aus blauer Ballonseide. In bizarr bunten Kostümen betreten die Schauspieler mit roten Clowns-Nasen die Bühne, schauen irritiert und staunend ins Publikum. „Hm. Hu. La. Au.“ Sie stimmen einen sinnfreien Sprechgesang an, bohren in der Nase. Das ist der Anfang von Stephan Kimmigs „Clavigo“-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen. Gemeinsam mit dem Ensemble des koproduzierenden Deutschen Theaters Berlin, der theateraffinen Musikerin Pollyester, Bühnenbildnerin Eva-Maria Bauer und Kostümbildnerin Johanna Pfau hat Kimmig sich Goethe vorgenommen und in luftiger Zirkusatmosphäre inszeniert.
Die kugelrunde Glitzerfrau tritt ans Mikro: „Das Werk muss alle bezaubern.“ Susanne Wolff spielt Clavigo, der bei Kimmig eine Frau ist. Wie überhaupt alle Rollen gendermäßig vertauscht sind. Hier ist der Mann der Verführte und Verlassene, die Frau die Unabhängige, die Karrieristin ohne Skrupel, die den Liebenden abwirft wie ein Kostüm aus der letzten Kollektion. Diese Clavigo will von den Massen gefeiert und geliebt werden, eine Selbstdarstellerin des neuen Jahrtausends. Susanne Wolff lässt die Brüchigkeit der aufgesetzten Selbstsicherheit immer wieder aufblitzen. Für die Liebe zu dem einen Menschen, wie Marie (Marcel Kohler) sie gerne hätte, hat Clavigo keine Kapazitäten. Etwas zu ausgedehnte Videos (Julian Kribasik, Lambert Strehlke) erinnern mit düsteren Bildern an eine Liebe, die keine Zukunft hat. Weil es in Clavigos Leben eben nur Platz für Clavigo gibt: „Mir geht in der Welt nichts über mich: Denn Gott ist Gott, und ich bin ich.“ Moral? Ist was für andere. Ein Mann an ihrer Seite? „Ein bisschen Goethe, ein bisschen Bonaparte, so soll er aussehn, der Mann auf den ich warte“, summt Clavigo mit France Galle.
„Clavigo“, dieses Frühwerk Goethes, hat gute Gedanken, wenig Dramatik. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, bietet es allerlei Anknüpfungspunkte für einen sinnsuchenden Regisseur wie Kimmig. Goethes Text ist ja nicht nur einer über die enttäuschte Liebe, sondern auch das, was Kimmig nun darin sucht und findet: ein Künstler- und Gesellschaftsdrama. Was ist sie denn, die Kunst, wenn sie nichts mit der Welt zu tun hat?, fragt Kimmig sich und seine Zuschauer.
Was er da inszeniert, ist nicht „Clavigo“, nicht nur. Es ist Goethe reloaded. Kimmig gibt diverse Texte von Goethe („Satyros“, „Hanswursts Hochzeit“) und anderen hinzu, mixt alles durch zu einem Zirkus der Eitel- und Nichtigkeiten. Ein Diskurs über die Mediengesellschaft, über die Kunst und ihren Sinn – oder eben Unsinn. Ein Abend über uns. Wieviel ist Show? Was eigentlich noch echt? Jeder ist nicht mehr – und nicht weniger – als das Bild, das er von sich entwirft und nach außen trägt. Pollyester schafft den Sound für alle Befindlichkeiten. Pop is all around. Technisch verstärkt übertönt jeder nicht nur die anderen, sondern sogar sich selbst. Die Worte werden zum Klangexperiment. Im ständigen Kampf um die Aufmerksamkeit gerät der einzelne ins Strudeln.
Jeder hält sich für ein verkanntes Genie. Jeder hat seine fünf Minuten Berühmtheit. Auch Carlos (famos gespielt von Moritz Grove), der die untalentierte Masse über die Sinnlosigkeit der eigenen Existenz hinwegtröstet: Euer Sinn bin ich! Was auch immer diese Menschen tun oder sagen: Sie sind auf Außenwirkung bedacht. Ob Carlos philosophiert oder Clavigo und Marie mal wieder Versöhnung feiern. Nichts ist privat. Alles öffentlich. Der Heißluftballon ist auf der Bühne gestrandet, aufgeblasen wie ein Zelt. Was im Inneren geschieht, wird medienwirksam inszeniert und nach Außen projiziert. Da ist sie wieder: die VIP-Gesellschaft, die sich selbst zum alleinigen Sinn erhebt.
Zwischen all die Selbstdarsteller schiebt Kimmig eine Erklärung der anderen Art: Ganz leise tritt Kathleen Morgeneyer an die Rampe, erinnert an Jean Ziegler und daran, dass der Welthunger nicht nötig, der Weltfrieden aber möglich wäre. An Zieglers Traum, dass die Kunst den Menschen im Innersten erreiche und die Selbstgerechtigkeit zusammenbricht: „Wunder sind möglich.“ Aber sehr unwahrscheinlich. Auch daran lässt Kimmig keine Zweifel.
Der Regisseur tut alles, um dem Stück, das nicht ganz zu Unrecht ein Stiefdasein auf deutschen Bühnen fristet, Leben und Sinn einzuhauchen. Und die Wiederbelebung funktioniert über weite Strecken. Seine Darsteller laufen zu Höchstform auf, sein Team schafft eindrucksvolle Bilder. Dennoch ist der Abend in seiner Grellheit und Überzeichnung nicht unanstrengend, er fordert heraus, spielt mit den Nerven des Publikums, das auf diese Reize sehr gespalten reagiert.
Am Ende steht der Ballon auf der Bühne. Aufbruchsbereit in eine Zukunft, die es hier nicht gibt. Keine der Figuren ist in der Lage, abzuheben, zu gefangen sind sie in ihren Egos. Marie versucht sich am Erstickungstod mittels Plastiktüte, Clavigo passt mit ihrem eindrucksvollen Reifrock nicht in den Ballonkorb. Alle treten an die Rampe, schauen ins Leere, nehmen die Pappnasen ein weiteres Mal ab. Das Spiel ist aus. Das Leben geht weiter.