Foto: Sasha Waltz & Guests: "Orfeo" im Festspielhaus Baden-Baden © Monika Rittershaus
Text:Eckehard Uhlig, am 22. Juni 2015
Alles fließt. Zu der pulsierenden Musik wogen und wiegen sich in bunten, luftig wehenden langen Kleidern die Körper der Frauen, in schwarzen Anzügen und weißen Hemden die athletischen der Männer, verdichten sich paarweise in ruhigen Klangpassagen, kreiseln über instrumentalen Wirbeln, von Trommeln, allerhand Pfeifen, Lautenspielern und Streichern ausgelöst.
Die schweifenden Bewegungen der einzeln oder in Gruppen Tanzenden gleiten in die solistisch und chorisch auftretenden Sänger hinüber und von deren schwebendem Gesang wieder zu den Tänzern zurück. Alle Akteure widmen sich singend und tanzend den Handlungsabläufen, greifen aus in den Raum zwischen der zweigeteilten, seitlich links und rechts auf der Bühne platzierten Kapelle, die auf originalen frühbarocken Instrumenten musiziert und ebenfalls vom Bewegungsstrom erfasst scheint.
Im Zentrum dieses Raums thront, aus edlem, hell angestrahlten Holz gefertigt, eine hohe und breite Säulen-Portalarchitektur, deren Tore sich einerseits zum Publikum, zum blühenden Leben öffnen. Auf der anderen Seite, zur Bühnenrückwand, zeigen sich projizierte grünende Wälder, dunstige Wasserflächen und das Totenreich. So entfaltet sich kunstvoll eine Symbiose aus Instrumental- und Vokalmusik, Handlung und Tanz im sinnfällig ausgestalteten Bühnenraum als Gesamtkunstwerk.
Gegeben wird im Festspielhaus Baden-Baden „Orfeo“ in deutscher Erstaufführung – Musik von Claudio Monteverdi, Libretto von Alessandro Striggio, Bühne Alexander Schwarz, Kostüme Beate Borrmann, eine Choreographie von Sasha Waltz. Natürlich hat die nach Pina Bauschs Tod zur Primaria des deutschen Tanztheaters aufgestiegene, gebürtige Karlsruher Choreographin in ihrer Heimatregion ein machtvoll bejubeltes Heimspiel. Man muss freilich zugeben, dass ihre choreographische Opern-Konzeption aufgeht – von wenigen zerdehnten Stellen, einer kaum zielführenden stummen Tanz-Episode direkt nach der Pause und ziemlich strukturlosen, kindlich vertändelten Hochzeits-Reigen der Hirten und Schäferinnen abgesehen. Insgesamt lebt der Mythos von Orpheus und Euridice trotz des tragischen Endes in dieser Aufführung zauberhaft heiter aufbereitet, fesselt beim Zuschauen und Zuhören alle Sinne.
Betörend das Eingangsbild, wenn Tanz und Gesang zum Harfenspiel als spiegelbildlich verdoppelte Allegorie erscheinen, wenn die exotische Zaratiana Randrianantenaina als raumgreifende Ballerina und Anna Lucia Richter, die später auch die Rolle der Euridice übernimmt, als Musica die Geschichte des Orpheus ankündigen. Oder im ersten Akt Orpheus-Orfeo (Georg Nigel, der seinen anspruchsvollen Part tenoral glanzvoll bewältigt) Sonne und Schöpfung preist und, von goldgelb gewandeten Tänzerinnen begleitet, seine Liebeshymne auf Euridice („Rosa del ciel“) anstimmt. Unheilsbotin und Hoffnung gleichermaßen ist Charlotte Hellekant mit dunkel timbrierter Mezzo-Stimme. Den Totenschiffer Charon, der wie ein Tübinger Stocherkahn-Lenker zwischen fischernem Körpergerschlängel seine Kreise zieht und von Orfeo hinreißend in den Schlaf gesungen wird („Possente spirito“), gibt Douglas Williams mit sanftem Bass. Pluto (Konstantin Wolff) und Prosperina (Luciana Mancini) ermöglichen dem Liebespaar die Rückkehr aus dem Totenreich, doch Orfeo bringt sich und seine Geliebte bekanntlich um das neu geschenkte Glück.
Mit Verve agiert Sasha Waltz‘ Tänzer-Ensemble, treibt Blumen zur Blüte, lässt Zweige verdorren und vermischt sich mit den Chor-Partnern vom exzellenten Berliner Vocalconsort. Immer wieder wirbeln Männer die Frauen um ihre Körperachse oder wuchten sie zur triumphalen Geste auf ihre Schultern. Graziös umspielt tanzendes Volk die Götter und Helden. Unter der spannungsgeladenen musikalischen Leitung von Pablo Heras-Casado sorgt das Freiburger BarockConsort für eine Bal-lettmusik, wie man sie tänzerischer kaum konzipieren kann. Die Hoffnung, das eine Choreographin die Opernwelt mit neuer Bildersprache bereichert, hat sich erfüllt.