Foto: Alexander May inszeniert in Osnabrück Georg Philipp Telemanns "Germanicus" in neuer Fassung. Warten auf den holden Gatten, der mal wieder mit seinem Joballtag mehr beschäftigt ist als mit dem Alltag rund ums Ehebett: Erika Simons (Agrippina). © Jörg Landsberg
Text:Jens Fischer, am 21. Juni 2015
Vorspiel auf dem Theater. Die Librettistin Christine Dorothea Lachs schmeckt einige Formulierungen ihres Textes noch einmal kurz ab, am Dirigenten tätschelt mutmachend der Komponist Georg Philipp Telemann herum, das Sängerensemble wuselt aufgescheucht durcheinander. Und wechselt von der barocken Garderobe zu römisch-germanisch anmutenden Versatzstücken. Kunstsinnige Bürger spielen Geschichte, wollen sich einfühlen – und emotional ausleben.
Tonsetzer Telemann ist nun eine Art Shakespeare-Narr, Lesbus, der die Handlung ironisch und moralisierend kommentiert. Und die Lachs wird zum verschmähten Liebhaber der hier Claudia genannten Thusnelda des Cheruskerfürsten Arminius. Paarbildungstechnisch erfolglos, daher für die Aufführung nicht mehr so wichtig, verwandelt sie sich bald zurück in die Autorin des Geschehens, umschleicht es – und greift ein, wenn eine Unschuldige nicht auf dem von ihr notierten Scheiterhaufen, sondern vom Regisseur mit moderner Folterpraxis bedroht wird.
Alle spielen den „Germanicus“ aus dem Geist der erblühenden bürgerlichen Musik- und Repräsentationskultur, wie sie sich in Deutschlands ersten Bürgeropern am Hamburger Gänsemarkt und in Leipzig ausdrückte. Dort erlebte „Germanicus“ 1704 seine Uraufführung. Am Theater Osnabrück ist die Titelfigur kein erfolgverwöhnter römischer Soldat mit angefütterter Heldenpower, kein siegreicher Olympionike und Feldherren-Superstar, der vor 2000 Jahren als Schlachter durch Germanien zog, um das Varus-Debakel zu rächen, sondern ein eher bürgerlicher, intellektuell minderbemittelter Macker, der sich beim stressigen Spagat zwischen Berufs- und Privatleben eine schmerzhafte Zerrung holt. Die von der Happy-End-Musik schnell wegmassiert wird.
Mehr scheint inhaltlich aus dem Stoff heutzutage nicht zu holen sein. Denn eine logische, an historisch verbürgten Tatsachen entwickelte narrative Struktur gibt es nicht. Das Personal wird stundenlang, allerdings augenzwinkernd, zu immer neuen Tumulten kombiniert in Sachen Ehe/Liebe/Eifersucht und Machtstreben.
„Etliche und zwanzig“ Werke will Telemann für die Leipziger Oper bis 1720 geschrieben haben. Alle galten als verloren. Aber dank der Vorarbeit des Musikwissenschaftlers Michael Maul konnte der Osnabrücker Kapellmeister Daniel Inbal ein lustiges Spiel starten: Wir basteln uns eine Oper. Maul hatte vor Jahren für seine Doktorarbeit ein Konvolut mit 41 kurzen Arien in der Musikaliensammlung der Universitätsbibliothek in Frankfurt am Main entdeckt und diese dem Telemann-„Germanicus“ zuordnen können. Ein Textbuch fand sich in der Dresdner Landesbibliothek. Aber es fehlt bis heute die Musik der Rezitative, die die Handlung erklären und voranbringen.
Da das „Frauenzimmer-Libretto“ (Telemann) vor allem eine Übersetzung der italienischen Oper „Germanico sul Reno“ von Giovanni Legrenzi (1626–1690) ist, die bereits 1676 uraufgeführt wurde, kopierte Inbal nun einfach die italienischen Rezitative (und einige ariose Teile) in sein Osnabrücker „Germanicus“-Fassung, stellte ihr eine Konzertouvertüre Telemanns voran, puzzelte illustrative Zwischenspiele ins Geschehen und fügte auch noch Arien anderer Telemann-Opern ein. Weswegen die Osnabrücker auch nicht von Rekonstruktion, sondern von der „Uraufführung einer Neuschöpfung“ sprechen.
Ein Eklektizismus, der musikalisch erstaunlich gut funktioniert. Da bereits Telemann, dem Zeitgeschmack gemäß, seine Arien abwechselnd in Deutsch und Italienisch singen ließ, ist der Sprachmischmasch sogar Barock-kompatibel. Da die Arien auch Barock-typisch nur lauthals jeweils eine Befindlichkeit wie Grimm, Hass, Furcht, Rache etc. endlos redundant verkünden, scheinen sie tatsächlich beliebig verpflanzbar. Und klanglich wirken die Gegensätze reizvoll von Legrenzis betulicher Schlichtheit und Telemanns stilistischem Feuerwerk voll zündender Melodien, staunenswerter Möglichkeiten zu instrumenteller Farbenpracht und aufbrausender Rhythmik.
Auch wenn das Osnabrücker Symphonieorchester sich eher verbissen gravitätisch durch die Partitur arbeitet, denn mit lässiger Virtuosität die Wucht barocker Klangrede zum Schweben bringt – Spitzen, Kanten Schrunden eher wegfeilt und Brüche fahl kittet. Das Ensemble hat mehr dramatische Gestaltungskraft aufzubieten. Wider die drohende Monotonie des Arienvortrags verzieren sie mit Trillern, Koloraturketten und allem, was die Stimmbänder hergeben. Mit schlankschön pathosfreier Akkuratesse gestaltet Countertenor Antonio Giovannini herausragend den Bösewicht Florus, markig ist der bassbaritonale Duktus des Germanicus (Shadi Torbey), seine Agrippina (Erika Simons) kommt mit warm moduliertem Timbre aus einer anderen Welt. An beider Zankarien und der kriegerischen Zurichtung seiner zarten Natur leidet ihr Sohn Caligula: Leslie Viscos metallisch aufglühender Gesang passt sehr gut dazu.
Für eine passgenaue Ausstattung ist das Bühnenbild-Team um Wolf Gutjahr extra in den Wörlitzer Park bei Dessau gereist, hätten aber auch in den barocken Herrenhäuser Anlagen in Hannover erleben können, wie gartentheatrale Lustbarkeiten funktionieren könnten. Jedenfalls nicht so: Auf der Drehbühne rotieren schwankend Holzlattengestelle, ab und an sind Goldlamettatarnvorhänge drangehängt. Das ist so schäbig, dass sich unsere Fantasie weigert, das zu blumig umwucherten Heckenlabyrinthen fürs Versteckspiel der Gefühle zu ergänzen.
Regisseur Alexander May setzt zudem der kruden Handlung gern noch Ulkkronen auf. Beispielsweise fürs Wegsperren. So muss Arminius auf einer Wackelleiter lächerlich schwanken, wenn er laut Textbuch in einem Turm inhaftiert ist. Und wenn Germanicus seine Agrippina einzukerkern hat, weil er sie für untreu hält, legt er ihr in Osnabrück Handschellen an: Lustvolles Räkeln beginnt, wohl hoffend, jetzt würde ihr Gatte endlich mal „Fifty Shades of Grey“ mit ihr spielen. Aber er muss schon wieder fort. Der Job als Schwerteschwinger ruft.