Foto: Meg Stuarts "Until our hearts stop" an den Münchner Kammerspielen © Iris Janke
Text:Vesna Mlakar, am 19. Juni 2015
Trotz vieler Premierenlacher und einigen wirklich amüsanten Einsprengseln ist Meg Stuarts jüngstes Werk keine leichte Kost – weder für die Zuschauer, noch für die Akteure. Ihre Gruppe „Damaged Goods“ (übersetzt: „Beschädigte Ware“) setzt sich diesmal aus sechs Performern zusammen: drei Frauen und drei Männer, darunter Kristof Van Boven mit einer solistischen Sprechnummer. Sein in einen Frack gezwängter, an den Pianisten dahingetuschelter Siniatra-Verschnitt als Magier-Moderator hat Showklasse! Den Rest der Zeit lassen Stuarts versierte Darsteller immer wieder alle Hüllen und die Schranken des sogenannten guten Benehmens fallen. Anfangs stille, sinnlich-relaxende Passagen steigern sich zu eindeutig sexuellen Verhaltensweisen mit ekstatischen Zuständen. An sich (auch körperlich) Privates wird bewusst dem Voyeurismus ausgesetzt und in einem Break das Publikum wie alte Bekannte angegangen und mit diversen Angeboten (z.B. Snacks, Wohnungsschlüsseln oder Körperschweiß als Parfüm) überhäuft.
Die existenzialistische Arbeit der aus New Orleans stammenden Choreographin war seit 2010 ein fester Baustein in Johan Simons länder- und spartenübergreifender Cross-Over-Programmatik. Hier kreierte sie 2012 „Built to Last“ und 2014 ihr erstes abendfüllendes Solo „Hunter“. Nun heißt es, kurz vor dem gemeinsamen Aufbruch von Simons und Stuart zur Ruhrtriennale, Abschiednehmen an den Kammerspielen von mit Tanz verquickten, stark körperlich-performativen Produktionen. Diese hatte man der Genre-Offenheit des scheidenden Intendanten und seinem auf besondere Künstler fokussierten Netzwerk zu verdanken. Beim Saisonendspurt geht es dabei Schlag auf Schlag.
Erst am 17. Juni wurde die letzte Münchner Aufführung von Alain Platels im Schauspielhaus uraufgeführtem Furorestück „Tauberbach“ – eine Einladung, Theater mit allen Sinnen zu erleben – noch einmal kräftig beklatscht. Einen Tag darauf: Meg Stuarts Uraufführung „Until our hearts stop“. Eine krasse Herausforderung, herkömmliche (Erfahrungs-)Grenzen auf der Suche nach neuen, zwischenmenschlich besseren(?) Begegnungsformen einzureißen. „Unsere Welt besteht aus Regeln. Diese gilt es zu verhandeln“, erklärt Stuart im Interview mit ihrem Dramaturgen Jeroen Versteele. Und dass es „manchmal nicht genug Bereitschaft gibt, albern und kreativ zu sein.“ Abhilfe soll ein esoterisch-aufgeladener Performance-Trip schaffen, für den das Ausstatter-Team Doris Dziersk (Bühne) und Nadine Grellingen (Kostüme) die Spielhalle in ein swingertaugliches, violettes Keller-Nachtclub-Ambiente mit schwarzem Sofa sowie einer zentralen, rautenförmig-lackglänzenden Spielfläche verwandelt haben.
Der Raum als Wohlfühlzone für Hemmungslosigkeit. Einmal drin, wird man schnell Teil einer freakigen Gemeinschaft, die sich zärtlich kost, magmaartig knuddelt, lustvoll balgt oder zu akrobatischen Fleischtürmen aufbaut, auf die nackte Haut des Andern schlägt bzw. dem Partner einen Tonkopf an die Birne modelliert, der anschließend auf dem Boden wieder zu erdiger Masse gemanscht wird. Den für städtische Theater ungewöhnlichen, hauptsächlich in Berlin (Stuarts Wahl-Heimat) stattfindenden Probenprozess haben u.a. Tantra- und Hypnose-Workshops bzw. Motivationsbegriffe wie Begierde, Verlangen, Intimität und Körpersicherheit bei totaler Nacktheit geprägt. Und die enge Zusammenarbeit mit dem jazzsoundgenialen Musikertrio Paul Lemp (Bass), Marc Lohr (Schlagzeug) und Stefan Rusconi (Klavier/Trompete).
Wie klanglich dicht und dabei empfindsam die drei selbst persönlichkeitsentblößendste Situationen über zwei Stunden hinweg live und hinzuagierend begleiten, trägt entscheidend zum Gelingen des interaktionsfreudigen Abends bei. Durchaus vorhandene Längen werden so – im Wortsinn – gut überspielt und Energie, die in Extreme schießt, akustisch aufgefangen. Ihren Gästen freilich lässt Stuart keine Wahl. Goutiert werden muss, was ihre „Damaged Goods“ einsatzstark präsentieren. Das ist gut so! Und sehr typisch: dieses Spiel um Aggression und Verletzlichkeit, mit dem Stuart mal politische, mal soziale Strukturen bricht und den Betrachter aus seiner vermeintlich geschützten Bequemlichkeit rüttelt.