Zum letzten Mal beim TT Berlin: Frank Castorfs "Baal"-Inszenierung

Viel Wind um eine Spielwiese

Bertolt Brecht: Baal

Theater:Residenztheater München/Theatertreffen Berlin, Premiere:17.05.2015Regie:Frank Castorf

DERNIÈRENKRITIK

Es ist eine recht windige Sache am diesem Sonntagabend vorm Haus der Berliner Festspiele. Im übertragenen, aber auch im wirklichen Sinne: Während ein paar Windböen vorbeiziehen, wird die „allerletzte“ Karte – (falls sie vorher nicht wegfliegt) – für den Baal-Abend versteigert. Der Erlös soll an die Brecht-Erben gehen. 130 Euro werden es am Ende (siehe auch TT Blog: http://theatertreffen-blog.de/tt15/viva-la-werktreue/). Trotzdem wäre es falsch, von „viel Wind um nichts“ zu sprechen, denn tatsächlich ist diese (Berlin-)Premiere ja eine wirklich interessante Dernière. Die Gründe sind bekannt: Die Brecht-Erben haben vor Gericht die Absetzung von Frank Castorfs „Baal“-Inszenierung am Residenztheater München erzwungen. Was diese letzte Aufführung beim Berliner Theatertreffen zu einem kleinen Theater-Happening macht, und die Auktion zu einem schelmischen Mätzchen.

Ein wenig ernüchternd – sofern bei einem Castorf-Abend von einem Nicht-Rausch überhaupt die Rede sein kann – ist dann die Tatsache, dass sich zwar alles sehr nach Castorf anfühlt, aber eben auch nach Brechts „Baal“. Der Geist der Brecht’schen Figur schwebt über der gesamten Inszenierung, mal konkret, mal nur noch ätherisch. „Hätte, hätte“ denkt man. Hätte Castorf doch einfach das Brecht-Etikett weggelassen, oder hätte… Doch es ist nun, wie es ist – dieser „Baal“ wird abgesetzt, die Debatte um das Urheberrecht geht weiter. In jedem Fall lassen sich Castorf und seine Spieler bei der letzten Aufführung natürlich die passenden Dernièren-Witze nicht entgehen: Keine Ahnung, wie lange es heute dauern werde, aber es sei auf jeden Fall das letzte Mal, konstatiert Baal (Aurel Manthei) lächelnd gleich zu Beginn. Später knallt er eine Bücherkiste auf den Tisch und seine Höllengemahlin (Bibiana Biglau) empört sich: „Das sind ja… lauter Fremdtexte!!“ Tatsächlich ist der auf gute vier Stunden Spieldauer aufgezogene Abend natürlich voll davon. Nicht immer ist ganz klar, bei welchem Autor man sich befindet. Und manchmal, wenn beispielsweise viele Minuten lang Filmsequenzen aus „Apocalypse Now“ (inkl. Videoübertragung desselben) nachgespielt werden, kann man natürlich von einer Ausschweifung sprechen. Nicht aber von einer grundsätzlichen Verdrehung. Denn selbst hier ist die Nähe zu Brechts Protagonist Baal hergestellt, und sei es allein durch das zentrale Filmzitat, das in dieser und noch folgenden Szenen zu hören ist: „Zwei Seelen wohnen in dir, eine die tötet, und eine, die liebt.“

Baal, der gierige Hedonist, ist bei Castorf ein kolonialistischer Soldat, der Expansionsdrang der westlichen Mächte in Person. Deshalb spielt dieser Abend im amerikanischen Vietnamkrieg, in einem großartig-assoziativen, detailverliebten Drehbühnenbauwerk von Aleksandar Denic. Und a propos Krieg: In der Konstruktion der Beziehung Baal – Ekart ließ sich Brecht von der Beziehung der beiden Dichter Rimbaud und Verlaine inspirieren, was wiederum den Bezug zu den Aufständen der Pariser Kommune von 1871 zulässt. Diese Folie erklärt nicht nur den Videoflug der Figuren über Paris am Ende der Inszenierung, sie ist das Schmieröl im gesamten Text-Sampling und –gedrehe.

Ein bisschen Spaß muss selbst im Krieg sein. Daher wird gevögelt, gegrapscht, gesoffen, gefressen und geraucht. Das Schauspiel ist dementsprechend überwiegend Raserei: Bibiana Biglau und Aurel Manthei sind überragend, Franz Pätzold (Ekart), Andrea Wenzl (Sophie), Katharina Pichler (Die ältere Schwester), Jürgen Stössinger (Gougou) und Götz Argus (Watzmann) verausgaben sich rauschartig. Hong Mei ist als singende kleine Schwester nicht nur die Einzige, die ihr Kleid anlassen darf, ihre musikalische Erweiterung des Schauspiels ist ein echter Spaß. Schade ist, dass so manches Textgeschoss nicht im Publikum ankommt, weil die Schauspieler oftmals gleichzeitig Wasser ausspucken, den Kopf im Schoß eines anderen wühlen und gegen laute Musik anschreien müssen (während sie bei all dem gefilmt werden). Ein bisschen Schwund ist immer. Wer gerade akustisch nichts versteht, hat in dieser Inszenierung trotzdem jede Menge zu entdecken, so viele Assoziationen lässt sie zu: intellektuell und asozial zugleich drängt sie sich mal dicht an die Vorlage und blickt dann wieder aus der Ferne zu ihr hin. Nicht nur ein Spielraum wird eröffnet, vielmehr eine wahre Spielwiese. Um die nun ziemlich viel Wind gemacht wurde.