Foto: Die Uraufführung von Beat Furrers "la bianca notte / die helle nacht" an der Staatsoper in Hamburg. Tómas Tómasson (Dino), Chor © Jörg Landsberg
Text:Christian Strehk, am 11. Mai 2015
Die Uraufführung von Beat Furrers italienischsprachiger Oper „La bianca notte“ hätte sich dieser Tage bestens in das Konzept der 56. Biennale von Venedig eingepasst. An der Hamburgischen Staatsoper ist mit ihr nämlich eine Art szenisch adaptierte Kunstperformance auf die Bühne gekommen, die pseudosynthetische Klangfelder in Video-Ästhetik ausstellt.
Was das Haus in der Dammtorstraße eine „sinnlich intellektuelle Meditation“ nennt, folgt tatsächlich keinem Handlungsstrang. Der Schweizer Komponist Furrer hat im Auftrag Hamburgs siebzehn Splitter aus dem einzigen Buch des italienischen Fin-de-Siècle-Dichters Dino Campana (1885-1932) herausgelöst. Dessen toskanische „Canti Orfici“ (Orphischen Gesänge) bilden in Dialogfetzen, Visionen und Lyrik-Abschnitten eine Art Fundus, um einer Künstler(auto)biographie nahe zu kommen, ohne ihr kontinuierlich folgen zu wollen.
Vom enervierenden Sirren bis zum abgrundtiefen Grollen reicht Furrers nie lauthalse, phantastisch „künstlich“ instrumentierte Musiksprache dafür. Aufgerieben zwischen Futurismus und Kriegskatastrophe entgleiten die Klänge über dem 1914 gedruckten Text stets ins Bodenlose. Wilde Tonkaskaden, auf- und abschäumende Arpeggien, ruhelos rasende Skalen und quälend langsam verschobene Cluster-Glissandi prägen das ständig verrutschende Hörbild.
Die tiefe existenzielle Verunsicherung des Dichters Dino, dessen zwischen Monodie und Verismo changierenden Gesänge der isländische Bariton Tómas Tómasson rau und gebrochen singt, findet in Ramin Grays Videoinstallations-Inszenierung ihren passenden Ort. Das Bühnenbild von Jeremy Herbert rastert die Eindrücke in einem abstrakt surrealen Setzkasten, spielt mit geometrischen Körpern und schiefen Ebenen. Janina Brinkmanns Kostüme verstärken Assoziationen an die futuristische Moderne, greifen aber auch auf Magritte vor.
So wie der streng oratorisch geschichtete Chor (Einstudierung: Eberhard Friedrich) seine Kommentare und Manifestationen wispert, summt und raunt, tauchen in Dinos Rückblenden weitere ominöse Figuren wie das mephistophelische Alter ego Regolo (Derek Welton) oder die Muse Sibilla (mit warmer Sopranleuchtkraft: Golda Schultz) nur auf, um die Künstlerposition zu bestimmen.
Intendantin Simone Young verabschiedet sich bei ihrer letzten Premiere noch einmal mit all ihren dirigentischen Qualitäten. Furrers ins Rutschen geratene Klangwelt wird von den Philharmonikern unter ihrer Leitung enorm suggestiv, mit schmerzlich eindringlichen Spannungsbögen und Überblendungen ausgebreitet. Filigranes und samtweich Verdichtetes flutet den Raum, ohne je den Sängern die Luft und damit die Präsenz zu nehmen.
Das virtuose Sausen, das in der Tradition von Ligeti und Nono zu stehen scheint, zieht sich kurz vor dem Wahnsinnsende sogar noch zu einer erstaunlich harmonischen Wohlklangwolke zusammen. Wie eine mutig eklektizistische Hommage an Hamburgs einstigen Pultchef Gustav Mahler und dessen Weltabschiedsgesänge wirkt das wahrsagende „Lied von der Chimäre“, das die grandiose Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner als Indovina mit erdmütterlicher Macht orgeln lässt. Wenn Dino danach feststellt, er sei „elektrisch“, wundert das unter den spürbar verwirrt beeindruckten, viel Beifall und etliche Bravi spendenden Zuhörern keinen mehr. Auch der anwesende Komponist signalisierte Dankbarkeit.