Foto: Richard Siegals "In A Landscape". Leonard Engel, Ekaterina Petina © Wilfried Hösl
Text:Vesna Mlakar, am 20. April 2015
Handlung gibt es keine. Die Struktur ist klar, die kraftgeladenen Bewegungen kippen permanent ins Extreme: 30 Minuten dauert Richard Siegals 2013 für das Bayerische Staatsballett kreierte Power-Stück „Unitxt“. Zeit für abschweifende Gedanken bleibt kaum. Zum Synthesizer-Piepsen und Schreibmaschinengetrommel (Carsten Nicolai) schiebt sich das fast den gesamten Abend charakterisierende Wort NOISE ins Bild. Hinter der Leinwand sammeln sich derweil die Tänzer. Dann geht alles rasend schnell: Sieben Frauen und fünf Männer schießen hinein in den dämmrig leeren Raum. Die Hände vor der Hüfte gefaltet, grooven erst einer, dann zwei Jungs im kniegefederten Nachstellschritt – seitlich nach rechts, dann nach links. Immer wieder. Dazu konträr die Schultermoves. Das von lässiger Vehemenz getragene Muster übernimmt bald eine hinzueilende Gruppe, die passend zum zackigen Sound außerdem die Köpfe hin- und herschwenkt.
Die formale Konzentration der Interpreten wird durch Lichtgestaltung und das Aufscheinen zweier weiterer Schriftzüge – SIGNAL und SILENCE – gesteuert. Akustisch brandet dazu rhythmisch dröhnender Sound mit pulsierenden Beats in den Zuschauerraum. Verdichtet sich die Choreographie zu Paaren oder Trios, verstärken den wie unter Strom gesetzten Drive Greifschlaufen an den Korsagen der Tänzerinnen (Industrial Design: Konstantin Grcic). Sie werden in Schräglage gezogen und geschoben oder zirkelartig vom Partner mitgedreht. Das Resultat: choreographische Beschleunigung und Unvorhersehbarkeit. Nach der sogenannten „If/Then“-Methode des aus North Carolina stammenden Ex-Forsythe-Tänzers ist ein Tanzstück voller Dynamik und von explosiver Körperspannung entstanden, das auch beim wiederholten Sehen tranceartige Sogwirkung entfaltet.
Attribute, die ebenso für „Metric Dozen“ gelten. Bereits vergangenen September war das mit dem Komponisten Lorenzo Bianchi Hoesch 2014 für das Ballet National de Marseille kreierte Stück in Originalbesetzung in München zu erleben. Nun setzte der viel beachtete Choreograph es ans Ende seines „Portrait Richard Siegal“-Abends, der am 18. April die Ballettfestwoche des Bayerischen Staatsballetts eröffnete. Die Stimmung im Saal ist außergewöhnlich launig. Dann wird es plötzlich schlagartig dunkel. Jemand tuschelt: „Jetzt hat’s die Sicherung rausgehauen“. Doch die Irritation ist nur der Startschuss zu einer extrem physischen, darstellerisch extrovertierten und rhythmusbasierten Show.
25 ins Auge springende Minuten, in denen der Amerikaner in Formationsstrudeln den Mechanismen von Laufsteg und menschlicher Kommunikation nachspürt. Dabei lässt er die zehn von Alexandra Bertaut in lacklederne Sweatshirts gekleideten Darsteller oft rückwärts durch den Raum rauschen, bevor diese ihre nackten Beine durch die Luft schleudern, die Arme heftig wie Scheren auf- und zuklappen oder butterweich von einer in sich verdrehten Pose in eine andere flutschen. Das gefällt! Als Gäste mit auf der Piste: Katharina Christl und Diego Tortelli, die für die Einstudierung verantwortlich zeichneten, sowie – supergeschmeidig – Kévin Quinaou und Siegals dunkelhäutiger Riese Corey Scott-Gilbert. Stellvertretend unter den Münchnern sei Jonah Cook erwähnt, dem Siegal in seiner zentralen Uraufführung „In A Landscape“ einen fast ausnahmeartig human-einfühlsamen Part zuwies.
Für den geradezu meditativ über die Bühne fließenden Halbstünder greift Siegal mehr als sonst zum Schrittrepertoire des klassischen Balletts. Natürlich nicht, ohne diesen zu verfremden. Dennoch kann man hier dem Fluss der Bewegungen besser folgen. Beispielsweise, wenn Ekaterina Petina sich rückwärtsgewandt, ein Bein nach vorne gestreckt, ihrem Partner den Nacken voran entgegenschlängelt. Eine reizvolle Tanzvokabelfindung, zu der die schillernde Haut von Reptilien als Inspirationsquelle für die Kostüme (Alexandra Bertaut) passt. Den Bogen zum Anfang spannt Grcics Ausstattung. Sie besteht (neben wenigen schwarzen Versatzelementen, einer fliegenden Lichtdrohne und einer hängenden Lichtschiene) aus zwei verschiebbaren Wänden. In den wechselnden Raumsituationen agieren die Tänzer wie präzise aufeinander eingespielte Rädchen eines stetig surrenden Choreographie-Uhrwerks. Musikalisch verbindet sich Ryuichi Sakamotis Klaviermusik mit Elektro-Klängen wiederum von Carsten Nikolai zu einer fast lyrischen Klangwolke, die selbst abrupte solistische Momente oder flinkes Gruppenauftreten irgendwie zu entschleunigen scheint. Ein Effekt, den die meist breiig-graue Beleuchtung noch unterstreicht. Insgesamt reißt das intensive Zusammenwirken von tänzerischer Energie, musikalischem Impuls und visueller Atmosphäre den Betrachter in allen drei Arbeiten mit.