Foto: John Neumeiers Choreographie "Das Lied von der Erde" © Ann Ray / Opéra national de Paris
Text:Andreas Berger, am 25. Februar 2015
Fast alle Sinfonien und Lieder Gustav Mahlers hat John Neumeier mit seinem Hamburg Ballett in Tanz umgesetzt. Nun hat er mit dem Ballett der Pariser Oper, mit dem ihn eine jahrzehntelange Gasttätigkeit verbindet, das „Lied von der Erde“ erarbeitet, Mahlers Weltabschiedswerk. Es entstand nach dem frühen Tod der ältesten Tochter, dem Verlassen der Wiener Operndirektion, der Diagnose seiner Herzerkrankung, die ihm fortan die geliebten Bergwanderungen verbot. 1911 wurde die sinfonisch angelegte Liedfolge auf chinesische Gedichte posthum uraufgeführt.
Und da ist Neumeier gleich wieder im Reich seiner Vorlieben, hat er doch auch solche Haiku schon choreographiert. Die Bühne des Palais Garnier bleibt denn auch leer bis auf drei symbolische Elemente: Den Spiegel über allem, der das Leben zum Gleichnis macht. Ein Kreissegment im Hintergrund, das zunächst blau schimmert wie unser Planet im All, dann aber wie ein Auge sich öffnet und schließt, rot und golden strahlen kann wie Sonne und Mond. Da lassen die abstrakten Kreisbilder Nijinskys grüßen, Neumeiers Tänzeridol. Dazu kommt noch ein geneigtes Rasenstück für die Erdung, und zusammen wirkt das schon etwas aufdringlich symbolisch.
Neumeier startet außerdem mit einem Prolog, der die wichtigsten Motive des Stücks, auch die tänzerischen, schon anreißt. Von hier aus scheint Protagonist Mathieu Ganio noch einmal sein Leben Revue passieren zu lassen. Wenn er die Hände vors Gesicht hält, erscheint mit Karl Paquette sein blondes Alter Ego, eine innige Umarmung noch, dann geht es ins Getümmel der Trinklieder, pflückender Mädchen und fröhlicher Freunde. Ganio tanzt mit staunender Offenheit und doch essentieller Entfremdung den Außenseiter, der mal nur aus dem Hintergrund zuschaut, mal einzugreifen sucht, dabei aber meist ins Leere fasst. Er ist der Welt eben längst abhanden gekommen, wie man mit einem anderen Mahler-Lied sagen könnte. Da ertasten die Hände, allzu pantomimisch-klischeehaft, immer wieder eine unsichtbare Wand. Mit stummen Zwischenspielen bremst Neumeier die Dynamik der an sich kontrastreichen Liedfolge zuätzlich aus. Dabei sind die Kontraste lebenswichtig auch für die Dynamik seines Balletts, diese hereinwirbelnden Jungs, die auf dem Rasenstück mit den Partnerinnen (oder Partner) zärtlich werden, oder jener „Trunkene im Frühling“, der mit lustig-eckiger Beinarbeit durchs pralle Leben taumelt. Und das Pavillon-Lied spickt Neumeier mit den Verbeugungen und weitergereichten Tassen einer Teezeremonie.
Tatsächlich sind die Kämpfe aus den früheren Sinfonien Mahlers verschwunden in diesem Weltabschiedswerk. Hier wuchten nicht Märsche um die Wette mit dem verlorenen Volksliedidyll und Kuhglocken. Hier schweben die Frauen auf Spitze ein wie die Wilis, liegen Bergesfreuden und Familienglück hinter ihm, wird der große lange Abschied zelebriert,der die Hälfte des ganzen Werkes einnimmt. So draufgängerisch Burkhard Fritz mit seinem kraftvollen Tenor die Trinklieder anstimmte, so weich und höhengeschmeidig singt nun Bariton Paul Armin Edelmann den Freundesabschied. Paquette, wie ein Alter Ego des Lebens, naht Ganio mit letztem Gruß. Als Ganio endlich die Berührung wagt, hat er sich weggeduckt. Doch darf er schließlich doch noch den Kopf in ihn schmiegen. Dann naht tödlich bergend die Frau, die Mutter, die Erde. Zu den letzten Worten „die liebe Erde allüberall blüht auf im Lenz … ewig, ewig“ hebt Ganio sie an, setzt sie kaum weiter wieder ab, umrundet sie ganz dicht, hebt, trägt und umrundet er sie erneut, ein wunderschön rhythmisiertes Kreisbild für die ewige Wiederkehr des Lebens. Zuletzt entschwinden sie ins Gegenlicht, Schatten nur noch. Und da hat einen Neumeier dann eben doch wieder gepackt, trotz mancher Kargheit, Bewegungsschroffheit, einer gewissen symbolischen Überfrachtung zuvor. Großer Applaus auch im Palais Garnier.