Foto: Die Uraufführung der Oper "Doktor Schiwago" am Theater Regensburg. Die Neuordnung der Welt bringt dem russischen Volk nur neues Leid. In intensiven Bühnenbildern wird „Doktor Schiwago“ als Epos der russischen Geschichte entdeckt. © Jochen Quast
Text:Michaela Schabel, am 26. Januar 2015
„Weh, leidgeprüftes Russland“, immer wieder taucht dieser Satz im Libretto auf. Er ist das Leitmotiv des jungen russischen Komponisten und Librettisten Anton Lubchenkos, der im Auftrag des Regensburger Intendanten Jens Neundorff von Enzberg „Doktor Schiwago“ als Oper auf Russisch konzipierte. Ein publikumswirksamer Schachzug des erfolgreichen Intendanten, noch mehr seine Entscheidung für das prominente Regie-Bühnenteam Silviu Purcarete und Helmut Stürmer aus Rumänien. Dass das einen Eklat im Vorfeld gibt, war abzusehen. Anton Lubchenko fühlte sich von der Interpretation der beiden Rumänen in seinem Nationalstolz beleidigt. Eine geplante Aufführung in Wladiwostok, wo Anton Lubchenko das Primorsky-Theater leitet, fällt ins Wasser. Regietheater ist in Russland noch nicht angesagt.
Doch die Regensburger Uraufführung gibt dem Regieteam Recht. Es setzt sich intensiv mit Lubchenkos hervorragendem Libretto auseinander. Gerade durch die Bildmagie der Bühne wird die Uraufführung „Doktor Schiwago“ das, was das Libretto vorgibt: ein neuer Zugang zu Boris Pasternaks Bestseller, weg von der Hollywood-Lovestory der mehrfach Oskar preisgekrönten Verfilmung, „Doktor Schiwago“ als Epos des „leidgeprüften Russland“, auch ohne bühnentechnische Aktualisierung gerade jetzt brandaktuell.
Wuchtig komponiert Anton Lubchenko das musikalische Drama in neun Szenen in russischer Musiktradition, collagiert mit Durchsagen und kurzen Sprechsequenzen. Unüberhörbar sind die musikalischen Wurzeln Tschaikowsky, Mussorgsky, Prokofjew, Rachmaninow, vor allem Schostakowitsch mit seiner expressiven Klangauseinandersetzung mit der Revolution. Im ersten Teil übernehmen Orchester und Chor die Hauptrollen im Spannungsfeld zwischen militärischer Vernichtung und revolutionärer Euphorie, schlichten Volksweisen und melancholischen Chorälen, in denen die russische Seele, das permanente Leid der russischen Bevölkerung hörbar wird.
Das Volk ist Akteur, was die Klangüberlagerungen erklärt, die kurzen, zerschnittenen Melodiebögen, zugeschmettert vom Orchester, Ausdruck autoritärer Macht. Die Liebesgeschichte um Doktor Schiwago und Lara leuchtet nur als Facette eines individuellen Schicksals auf, bleibt Detail im großen Geschichtsepos. Allein Lara, stimmgewaltig von Michaela Schneider intoniert, durchdringt die Klangwogen. Sie steht für das einfache Volk, das sich immer schuldig fühlt, nicht rebelliert, sondern gehorcht. Doktor Schiwagos gesungene Emotionen, kraftvoll und ausdrucksstark von Vladimir Baykov interpretiert, versinken in der instrumentalen Monumentalität und deren musikalischen Facetten.
Unter dem vehementen, ambitionierten, oft sehr schrillen Dirigat Anton Lubchenkos wird das Philharmonische Orchester Regensburg zum akustischen Schlachtfeld, das Arienzauber und Pianos erst nach der Revolution im zweiten Teil gewährt, als Bespitzelung das Land überzieht. Genauso wie die russische Geschichte wiederholen sich musikalische Klangteppiche, fanfarische Phalanxen aus dem Orchestergraben, markante Trommelwirbel, die Sterbeglocken, perkussive Aufmischungen. Verwaschen klingt manches, oft grell und schrill, ein Hörbild monströser Gewaltmechanismen.
Dazu liefert Helmut Stürmer (Bühne) in Zusammenarbeit mit Regisseur Silviu Purcarete großartige Bilder, in der die Symbole der Macht mehr Bedeutung gewissen als Menschen in grauen Ummantelung. Grau in grau jagen die Kriegswolken auf der Projektionswand, schimmert die Weite der Taiga, ist das Leben. Auf der Drehbühne vermitteln wenige Krankenbetten unendliches Elend, Zäune Einengung und Unfreiheit. Metallisch das Haus, es wandelt sich vom Lazarett zum Bunker zur Machtzentrale. Von unten hochgefahren outen sich die Partisanen im Untergrund. Revolutionär Strelnikow (Vitali Ishutin) wird weder mit Kokain noch mit der Zauberin in der Badewanne seinen „Schorf“ los, der überall auf Russland klebt. Egal, wer herrscht, das Volk bleibt auf dem Hund, weshalb die Regie das Volk darüber traumatisiert in Tiermasken konterkariert. Nur kurz hellen sich die Wolken auf als Sinnbild revolutionärer Visionen. Schwarze Verdichtungen verweisen auf die nahende Katastrophe. Strelnikow, heroisch auf der Staffelei, schwingt die Sichel wie der Tod. Die flatternde rote Flagge signalisiert Start in neues Leid. Alles wird abgefackelt. Russland brennt. Der Krieg wird mit tonaler Wucht hörbar.
Nach der Pause wird Schiwagos Schicksal zum bedrückenden Parabel autoritärer Zwangsherrschaft. Heim und Haus sind nur noch märchenhafte Illusion im Hintergrund der Bühne. Lara und Schiwago inklusive des Handlangers Komarowski (Vitali Ishutin) an einem Tisch en miniature zeigt die Lage der Menschen, in der sie sind: Marionetten, allerdings mit denselben Bedürfnissen wie auf der anderen Seite der Welt. Ausgelassen tanzen sie auf Schiwagos späterer Hochzeit zur Swingmusik. Nur die roten Fähnchen markieren den Unterschied. Das Feuer der Liebe lodert allerdings nur noch eisblau. Zu omnipräsent ist der Kältepol, der zugeschneite Kreml. Er rückt in die Ferne und ist doch immer da, lautlos wie die Schneeflocken. Die Neuordnung der Welt hat dem Volk nichts gebracht. Nur die wahre Kunst lohnt der Aufmerksamkeit. „Sie ist immer ehrlich“. Mit einem Porträt verdeutlicht die Regisseur Silviu Purcarete die Hommage für Boris Pasternak, das Anton Lubchenko beim Abschlussapplaus noch eine Mal in den Mittelpunkt stellt.
Eine großartige Inszenierung! „Doktor Schiwago“ könnte als Oper der Durchbruch gelingen. Interessant ist dann vor allem die Frage, ob die Musik in anderer Konstellation an Klangschärfe und Stimmaura gewinnt.